Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite
Sechstes Kapitel.
Algemeine Grundsätze des Völkerrechts
.
§. 1.
Die Nazionen müssen ihrer Natur gemäs
handeln
.

Jedes vernünftige Wesen fühlt in sich den Beruf, sei-
ne Handlungen seiner Natur gemäs einzurichten.
Die Völker sind aus einzelnen Menschen zusammenge-
sezt, welche durch den Eintritt in einen Staatsverein
der von Natur aufhabenden Pflichten keinesweges entle-
digt werden. Ein solcher Staatskörper hat daher, als
moralische Person, nicht nur eben dieienigen Obliegen-
heiten auf sich, welche die einzelnen Glieder im natürli-
chen Zustande verbanden, sondern er muß auch noch über-
dies bey allen Handlungen die Natur und die Absicht sei-
ner Verbindung zu Rathe ziehen.

Natürliche Freiheit und Gleichheit sind die Hauptei-
genschaften eines Volks. Verlangen nach Glückselig-
keit ist die vorzüglichste Triebfeder aller menschlichen
Handlungen im aussergeselschaftlichen Zustande sowohl,
als in Verbindung mit andern. In der gemeinschaft-
lichen Glückseligkeitsbeförderung besteht auch der Haupt-
grund und die Absicht der Staatsvereine und der gesel-
schaftlichen Verbindung mehrerer Völker. Sie gehört
daher zum Wesen der Nazionen. Wenn sie darauf alle
ihre Handlungen abzielen lassen, so leben sie ihrer Na-
tur gemäs: dies ist die erste Pflicht, welche sie sich selber

schul-
Sechſtes Kapitel.
Algemeine Grundſaͤtze des Voͤlkerrechts
.
§. 1.
Die Nazionen muͤſſen ihrer Natur gemaͤs
handeln
.

Jedes vernuͤnftige Weſen fuͤhlt in ſich den Beruf, ſei-
ne Handlungen ſeiner Natur gemaͤs einzurichten.
Die Voͤlker ſind aus einzelnen Menſchen zuſammenge-
ſezt, welche durch den Eintritt in einen Staatsverein
der von Natur aufhabenden Pflichten keinesweges entle-
digt werden. Ein ſolcher Staatskoͤrper hat daher, als
moraliſche Perſon, nicht nur eben dieienigen Obliegen-
heiten auf ſich, welche die einzelnen Glieder im natuͤrli-
chen Zuſtande verbanden, ſondern er muß auch noch uͤber-
dies bey allen Handlungen die Natur und die Abſicht ſei-
ner Verbindung zu Rathe ziehen.

Natuͤrliche Freiheit und Gleichheit ſind die Hauptei-
genſchaften eines Volks. Verlangen nach Gluͤckſelig-
keit iſt die vorzuͤglichſte Triebfeder aller menſchlichen
Handlungen im auſſergeſelſchaftlichen Zuſtande ſowohl,
als in Verbindung mit andern. In der gemeinſchaft-
lichen Gluͤckſeligkeitsbefoͤrderung beſteht auch der Haupt-
grund und die Abſicht der Staatsvereine und der geſel-
ſchaftlichen Verbindung mehrerer Voͤlker. Sie gehoͤrt
daher zum Weſen der Nazionen. Wenn ſie darauf alle
ihre Handlungen abzielen laſſen, ſo leben ſie ihrer Na-
tur gemaͤs: dies iſt die erſte Pflicht, welche ſie ſich ſelber

ſchul-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0416" n="390"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g"><hi rendition="#b">Sech&#x017F;tes Kapitel.</hi><lb/>
Algemeine Grund&#x017F;a&#x0364;tze des Vo&#x0364;lkerrechts</hi>.</head><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 1.<lb/><hi rendition="#g">Die Nazionen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en ihrer Natur gema&#x0364;s<lb/>
handeln</hi>.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">J</hi>edes vernu&#x0364;nftige We&#x017F;en fu&#x0364;hlt in &#x017F;ich den Beruf, &#x017F;ei-<lb/>
ne Handlungen &#x017F;einer Natur gema&#x0364;s einzurichten.<lb/>
Die Vo&#x0364;lker &#x017F;ind aus einzelnen Men&#x017F;chen zu&#x017F;ammenge-<lb/>
&#x017F;ezt, welche durch den Eintritt in einen Staatsverein<lb/>
der von Natur aufhabenden Pflichten keinesweges entle-<lb/>
digt werden. Ein &#x017F;olcher Staatsko&#x0364;rper hat daher, als<lb/>
morali&#x017F;che Per&#x017F;on, nicht nur eben dieienigen Obliegen-<lb/>
heiten auf &#x017F;ich, welche die einzelnen Glieder im natu&#x0364;rli-<lb/>
chen Zu&#x017F;tande verbanden, &#x017F;ondern er muß auch noch u&#x0364;ber-<lb/>
dies bey allen Handlungen die Natur und die Ab&#x017F;icht &#x017F;ei-<lb/>
ner Verbindung zu Rathe ziehen.</p><lb/>
            <p>Natu&#x0364;rliche Freiheit und Gleichheit &#x017F;ind die Hauptei-<lb/>
gen&#x017F;chaften eines Volks. Verlangen nach Glu&#x0364;ck&#x017F;elig-<lb/>
keit i&#x017F;t die vorzu&#x0364;glich&#x017F;te Triebfeder aller men&#x017F;chlichen<lb/>
Handlungen im au&#x017F;&#x017F;erge&#x017F;el&#x017F;chaftlichen Zu&#x017F;tande &#x017F;owohl,<lb/>
als in Verbindung mit andern. In der gemein&#x017F;chaft-<lb/>
lichen Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeitsbefo&#x0364;rderung be&#x017F;teht auch der Haupt-<lb/>
grund und die Ab&#x017F;icht der Staatsvereine und der ge&#x017F;el-<lb/>
&#x017F;chaftlichen Verbindung mehrerer Vo&#x0364;lker. Sie geho&#x0364;rt<lb/>
daher zum We&#x017F;en der Nazionen. Wenn &#x017F;ie darauf alle<lb/>
ihre Handlungen abzielen la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o leben &#x017F;ie ihrer Na-<lb/>
tur gema&#x0364;s: dies i&#x017F;t die er&#x017F;te Pflicht, welche &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elber<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chul-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[390/0416] Sechſtes Kapitel. Algemeine Grundſaͤtze des Voͤlkerrechts. §. 1. Die Nazionen muͤſſen ihrer Natur gemaͤs handeln. Jedes vernuͤnftige Weſen fuͤhlt in ſich den Beruf, ſei- ne Handlungen ſeiner Natur gemaͤs einzurichten. Die Voͤlker ſind aus einzelnen Menſchen zuſammenge- ſezt, welche durch den Eintritt in einen Staatsverein der von Natur aufhabenden Pflichten keinesweges entle- digt werden. Ein ſolcher Staatskoͤrper hat daher, als moraliſche Perſon, nicht nur eben dieienigen Obliegen- heiten auf ſich, welche die einzelnen Glieder im natuͤrli- chen Zuſtande verbanden, ſondern er muß auch noch uͤber- dies bey allen Handlungen die Natur und die Abſicht ſei- ner Verbindung zu Rathe ziehen. Natuͤrliche Freiheit und Gleichheit ſind die Hauptei- genſchaften eines Volks. Verlangen nach Gluͤckſelig- keit iſt die vorzuͤglichſte Triebfeder aller menſchlichen Handlungen im auſſergeſelſchaftlichen Zuſtande ſowohl, als in Verbindung mit andern. In der gemeinſchaft- lichen Gluͤckſeligkeitsbefoͤrderung beſteht auch der Haupt- grund und die Abſicht der Staatsvereine und der geſel- ſchaftlichen Verbindung mehrerer Voͤlker. Sie gehoͤrt daher zum Weſen der Nazionen. Wenn ſie darauf alle ihre Handlungen abzielen laſſen, ſo leben ſie ihrer Na- tur gemaͤs: dies iſt die erſte Pflicht, welche ſie ſich ſelber ſchul-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/416
Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/416>, abgerufen am 24.11.2024.