Die Geselschaftspflichten, welche Nazionen einander aus gegenseitiger Liebe zu Beförderung ihrer Glückselig- keit leisten, werden Liebespflichten [officia humanita- tis] genant, und in verschiedene Klassen getheilt. Sie sind entweder unbestimte [indefinita], welche ein Volk ohne Rücksicht auf eine besondere Nazion, oder bestim- te [definita], welche es bey würklich vorkommenden Ge- legenheiten ausübt. Nazionen z. B. welche auf ansehn- liche Getraidevorräthe bedacht sind, um andere bedürfen- den Fals damit zu unterstützen, erfüllen die erstern, und wenn sie einem eben nothleidenden Volke damit aushel- fen, die leztern. Ferner werden sie theils ohne, theils mit eigner Beschwernis geleistet. Jene insbesondere heissen Pflichten unschädlicher Gefälligkeit [innoxiae utilitatis], und man theilt sie gemeiniglich auch in beia- hende [affirmativa] und verneinende [negativa], ienach- dem ein Volk seine Kräfte zum Nutzen des andern selbst anwendet, oder nur zuläst, daß etwas zu dessen Vor- theil geschehe. Der noch vorzüglichern Liebespflichten, welche mit Aufopferung irgend eines Eigenthums ver- knüpft sind [noxiae utilitatis s. humanitatis eminentioris] giebt es wiederum verschiedene Gattungen. Sie sind theils Pflichten der Wohlthätigkeit [liberalitatis s. beneficentiae], wenn ein Volk dem andern etwas von dem Seinigen entweder zum völligen Eigenthum, oder nur zum Gebrauch einräumt; theils Pflichten der Dienstfertigkeit [officiositatis], wenn ein Volk für das andre eine beschwerliche Verrichtung z. B. das Amt eines Mitlers zwischen kriegführenden Mächten über- nimt; oder endlich Pflichten der Dankbarkeit [grati- tudinis], vermöge welchen ein Volk Wohlthaten mit Wohlthaten vergilt.
*]
Algemeine Grundſaͤtze des Voͤlkerrechts.
§. 12. Liebespflichten und deren Eintheilung.
Die Geſelſchaftspflichten, welche Nazionen einander aus gegenſeitiger Liebe zu Befoͤrderung ihrer Gluͤckſelig- keit leiſten, werden Liebespflichten [officia humanita- tis] genant, und in verſchiedene Klaſſen getheilt. Sie ſind entweder unbeſtimte [indefinita], welche ein Volk ohne Ruͤckſicht auf eine beſondere Nazion, oder beſtim- te [definita], welche es bey wuͤrklich vorkommenden Ge- legenheiten ausuͤbt. Nazionen z. B. welche auf anſehn- liche Getraidevorraͤthe bedacht ſind, um andere beduͤrfen- den Fals damit zu unterſtuͤtzen, erfuͤllen die erſtern, und wenn ſie einem eben nothleidenden Volke damit aushel- fen, die leztern. Ferner werden ſie theils ohne, theils mit eigner Beſchwernis geleiſtet. Jene insbeſondere heiſſen Pflichten unſchaͤdlicher Gefaͤlligkeit [innoxiae utilitatis], und man theilt ſie gemeiniglich auch in beia- hende [affirmativa] und verneinende [negativa], ienach- dem ein Volk ſeine Kraͤfte zum Nutzen des andern ſelbſt anwendet, oder nur zulaͤſt, daß etwas zu deſſen Vor- theil geſchehe. Der noch vorzuͤglichern Liebespflichten, welche mit Aufopferung irgend eines Eigenthums ver- knuͤpft ſind [noxiae utilitatis ſ. humanitatis eminentioris] giebt es wiederum verſchiedene Gattungen. Sie ſind theils Pflichten der Wohlthaͤtigkeit [liberalitatis ſ. beneficentiae], wenn ein Volk dem andern etwas von dem Seinigen entweder zum voͤlligen Eigenthum, oder nur zum Gebrauch einraͤumt; theils Pflichten der Dienſtfertigkeit [officioſitatis], wenn ein Volk fuͤr das andre eine beſchwerliche Verrichtung z. B. das Amt eines Mitlers zwiſchen kriegfuͤhrenden Maͤchten uͤber- nimt; oder endlich Pflichten der Dankbarkeit [grati- tudinis], vermoͤge welchen ein Volk Wohlthaten mit Wohlthaten vergilt.
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Algemeine Grundſaͤtze des Voͤlkerrechts.
§. 12.
Liebespflichten und deren Eintheilung.
Die Geſelſchaftspflichten, welche Nazionen einander
aus gegenſeitiger Liebe zu Befoͤrderung ihrer Gluͤckſelig-
keit leiſten, werden Liebespflichten [officia humanita-
tis] genant, und in verſchiedene Klaſſen getheilt. Sie
ſind entweder unbeſtimte [indefinita], welche ein Volk
ohne Ruͤckſicht auf eine beſondere Nazion, oder beſtim-
te [definita], welche es bey wuͤrklich vorkommenden Ge-
legenheiten ausuͤbt. Nazionen z. B. welche auf anſehn-
liche Getraidevorraͤthe bedacht ſind, um andere beduͤrfen-
den Fals damit zu unterſtuͤtzen, erfuͤllen die erſtern, und
wenn ſie einem eben nothleidenden Volke damit aushel-
fen, die leztern. Ferner werden ſie theils ohne, theils
mit eigner Beſchwernis geleiſtet. Jene insbeſondere
heiſſen Pflichten unſchaͤdlicher Gefaͤlligkeit [innoxiae
utilitatis], und man theilt ſie gemeiniglich auch in beia-
hende [affirmativa] und verneinende [negativa], ienach-
dem ein Volk ſeine Kraͤfte zum Nutzen des andern ſelbſt
anwendet, oder nur zulaͤſt, daß etwas zu deſſen Vor-
theil geſchehe. Der noch vorzuͤglichern Liebespflichten,
welche mit Aufopferung irgend eines Eigenthums ver-
knuͤpft ſind [noxiae utilitatis ſ. humanitatis eminentioris]
giebt es wiederum verſchiedene Gattungen. Sie ſind
theils Pflichten der Wohlthaͤtigkeit [liberalitatis ſ.
beneficentiae], wenn ein Volk dem andern etwas von
dem Seinigen entweder zum voͤlligen Eigenthum, oder
nur zum Gebrauch einraͤumt; theils Pflichten der
Dienſtfertigkeit [officioſitatis], wenn ein Volk fuͤr
das andre eine beſchwerliche Verrichtung z. B. das Amt
eines Mitlers zwiſchen kriegfuͤhrenden Maͤchten uͤber-
nimt; oder endlich Pflichten der Dankbarkeit [grati-
tudinis], vermoͤge welchen ein Volk Wohlthaten mit
Wohlthaten vergilt.
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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/423>, abgerufen am 21.11.2024.
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