Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 2. Altenburg, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite
Von d. Rechten der Nazionen gegen einander
§. 10.
Aufkündigung des Gehorsams.

Ein anderer Fall ist es, wenn das gesamte Volk
oder dessen Repräsentanten, wegen unerträglicher Be-
drückungen und tyrannischer Behandlungen oder ande-
rer offenbar grundgesetzwidriger, dem Wohl des Staats
entgegenlaufender Unternehmungen der Oberherschaft,
sich berechtigt glauben, ihr den Gehorsam gänzlich auf-
zusagen, sich für unabhängig zu erklären oder einem
andern Regenten zu unterwerfen oder wenigstens dem
vorigen, mit Umwerfung der ganzen bisherigen Ver-
fassung, neue und eingeschränktere Grundgesetze vorzu-
schreiben. Verschiedene Rechtslehrer wollen auch hier,
weil sie zum Theil dem zu Gehorsam und Unterthä-
nigkeit verpflichteten Volke selbst kein Recht der Beur-
teilung, des Widerstandes und der Bestrafung über
den Regenten hierunter zugestehn, die Einmischung
anderer Nazionen in diese blos die innere Verfassung
betreffende Angelegenheit für unerlaubt ansehn a]. Gro-
rius hingegen b] und andere machen einen Unterschied,
ob die Vergehungen der Oberherschaft blos in harten
Privatbeleidigungen bestehen, oder ob sie würklich of-
fenbare Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten gegen den
Staat sich habe zu Schulden kommen lassen und gestat-
ten im letztern Falle den auswärtigen Nazionen mehr
Recht als dem Volke. Ich will hier die in das Staats-
recht gehörige Frage: wie weit das Volk, sowohl in
einem uneingeschränkten Staate, als in einem solchen,
wo die Regierung auf gewisse Grundgesetze beruht, be-
rechtigt sey, der Oberherschaft, wegen zweck- und ge-
setzwidriger Unternehmungen, den Gehorsam aufzukün-
digen? nicht weitläuftig untersuchen. Die vorzüg-
lichsten Staatsrechtslehrer sind indes dahin einverstan-

den,
Von d. Rechten der Nazionen gegen einander
§. 10.
Aufkuͤndigung des Gehorſams.

Ein anderer Fall iſt es, wenn das geſamte Volk
oder deſſen Repraͤſentanten, wegen unertraͤglicher Be-
druͤckungen und tyranniſcher Behandlungen oder ande-
rer offenbar grundgeſetzwidriger, dem Wohl des Staats
entgegenlaufender Unternehmungen der Oberherſchaft,
ſich berechtigt glauben, ihr den Gehorſam gaͤnzlich auf-
zuſagen, ſich fuͤr unabhaͤngig zu erklaͤren oder einem
andern Regenten zu unterwerfen oder wenigſtens dem
vorigen, mit Umwerfung der ganzen bisherigen Ver-
faſſung, neue und eingeſchraͤnktere Grundgeſetze vorzu-
ſchreiben. Verſchiedene Rechtslehrer wollen auch hier,
weil ſie zum Theil dem zu Gehorſam und Unterthaͤ-
nigkeit verpflichteten Volke ſelbſt kein Recht der Beur-
teilung, des Widerſtandes und der Beſtrafung uͤber
den Regenten hierunter zugeſtehn, die Einmiſchung
anderer Nazionen in dieſe blos die innere Verfaſſung
betreffende Angelegenheit fuͤr unerlaubt anſehn a]. Gro-
rius hingegen b] und andere machen einen Unterſchied,
ob die Vergehungen der Oberherſchaft blos in harten
Privatbeleidigungen beſtehen, oder ob ſie wuͤrklich of-
fenbare Ungerechtigkeiten und Grauſamkeiten gegen den
Staat ſich habe zu Schulden kommen laſſen und geſtat-
ten im letztern Falle den auswaͤrtigen Nazionen mehr
Recht als dem Volke. Ich will hier die in das Staats-
recht gehoͤrige Frage: wie weit das Volk, ſowohl in
einem uneingeſchraͤnkten Staate, als in einem ſolchen,
wo die Regierung auf gewiſſe Grundgeſetze beruht, be-
rechtigt ſey, der Oberherſchaft, wegen zweck- und ge-
ſetzwidriger Unternehmungen, den Gehorſam aufzukuͤn-
digen? nicht weitlaͤuftig unterſuchen. Die vorzuͤg-
lichſten Staatsrechtslehrer ſind indes dahin einverſtan-

den,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0300" n="286"/>
          <fw place="top" type="header">Von d. Rechten der Nazionen gegen einander</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 10.<lb/><hi rendition="#g">Aufku&#x0364;ndigung des Gehor&#x017F;ams</hi>.</head><lb/>
            <p>Ein anderer Fall i&#x017F;t es, wenn das ge&#x017F;amte Volk<lb/>
oder de&#x017F;&#x017F;en Repra&#x0364;&#x017F;entanten, wegen unertra&#x0364;glicher Be-<lb/>
dru&#x0364;ckungen und tyranni&#x017F;cher Behandlungen oder ande-<lb/>
rer offenbar grundge&#x017F;etzwidriger, dem Wohl des Staats<lb/>
entgegenlaufender Unternehmungen der Oberher&#x017F;chaft,<lb/>
&#x017F;ich berechtigt glauben, ihr den Gehor&#x017F;am ga&#x0364;nzlich auf-<lb/>
zu&#x017F;agen, &#x017F;ich fu&#x0364;r unabha&#x0364;ngig zu erkla&#x0364;ren oder einem<lb/>
andern Regenten zu unterwerfen oder wenig&#x017F;tens dem<lb/>
vorigen, mit Umwerfung der ganzen bisherigen Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung, neue und einge&#x017F;chra&#x0364;nktere Grundge&#x017F;etze vorzu-<lb/>
&#x017F;chreiben. Ver&#x017F;chiedene Rechtslehrer wollen auch hier,<lb/>
weil &#x017F;ie zum Theil dem zu Gehor&#x017F;am und Untertha&#x0364;-<lb/>
nigkeit verpflichteten Volke &#x017F;elb&#x017F;t kein Recht der Beur-<lb/>
teilung, des Wider&#x017F;tandes und der Be&#x017F;trafung u&#x0364;ber<lb/>
den Regenten hierunter zuge&#x017F;tehn, die Einmi&#x017F;chung<lb/>
anderer Nazionen in die&#x017F;e blos die innere Verfa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
betreffende Angelegenheit fu&#x0364;r unerlaubt an&#x017F;ehn <hi rendition="#aq"><hi rendition="#sup">a</hi></hi>]. Gro-<lb/>
rius hingegen <hi rendition="#aq"><hi rendition="#sup">b</hi></hi>] und andere machen einen Unter&#x017F;chied,<lb/>
ob die Vergehungen der Oberher&#x017F;chaft blos in harten<lb/>
Privatbeleidigungen be&#x017F;tehen, oder ob &#x017F;ie wu&#x0364;rklich of-<lb/>
fenbare Ungerechtigkeiten und Grau&#x017F;amkeiten gegen den<lb/>
Staat &#x017F;ich habe zu Schulden kommen la&#x017F;&#x017F;en und ge&#x017F;tat-<lb/>
ten im letztern Falle den auswa&#x0364;rtigen Nazionen mehr<lb/>
Recht als dem Volke. Ich will hier die in das Staats-<lb/>
recht geho&#x0364;rige Frage: wie weit das Volk, &#x017F;owohl in<lb/>
einem uneinge&#x017F;chra&#x0364;nkten Staate, als in einem &#x017F;olchen,<lb/>
wo die Regierung auf gewi&#x017F;&#x017F;e Grundge&#x017F;etze beruht, be-<lb/>
rechtigt &#x017F;ey, der Oberher&#x017F;chaft, wegen zweck- und ge-<lb/>
&#x017F;etzwidriger Unternehmungen, den Gehor&#x017F;am aufzuku&#x0364;n-<lb/>
digen? nicht weitla&#x0364;uftig unter&#x017F;uchen. Die vorzu&#x0364;g-<lb/>
lich&#x017F;ten Staatsrechtslehrer &#x017F;ind indes dahin einver&#x017F;tan-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[286/0300] Von d. Rechten der Nazionen gegen einander §. 10. Aufkuͤndigung des Gehorſams. Ein anderer Fall iſt es, wenn das geſamte Volk oder deſſen Repraͤſentanten, wegen unertraͤglicher Be- druͤckungen und tyranniſcher Behandlungen oder ande- rer offenbar grundgeſetzwidriger, dem Wohl des Staats entgegenlaufender Unternehmungen der Oberherſchaft, ſich berechtigt glauben, ihr den Gehorſam gaͤnzlich auf- zuſagen, ſich fuͤr unabhaͤngig zu erklaͤren oder einem andern Regenten zu unterwerfen oder wenigſtens dem vorigen, mit Umwerfung der ganzen bisherigen Ver- faſſung, neue und eingeſchraͤnktere Grundgeſetze vorzu- ſchreiben. Verſchiedene Rechtslehrer wollen auch hier, weil ſie zum Theil dem zu Gehorſam und Unterthaͤ- nigkeit verpflichteten Volke ſelbſt kein Recht der Beur- teilung, des Widerſtandes und der Beſtrafung uͤber den Regenten hierunter zugeſtehn, die Einmiſchung anderer Nazionen in dieſe blos die innere Verfaſſung betreffende Angelegenheit fuͤr unerlaubt anſehn a]. Gro- rius hingegen b] und andere machen einen Unterſchied, ob die Vergehungen der Oberherſchaft blos in harten Privatbeleidigungen beſtehen, oder ob ſie wuͤrklich of- fenbare Ungerechtigkeiten und Grauſamkeiten gegen den Staat ſich habe zu Schulden kommen laſſen und geſtat- ten im letztern Falle den auswaͤrtigen Nazionen mehr Recht als dem Volke. Ich will hier die in das Staats- recht gehoͤrige Frage: wie weit das Volk, ſowohl in einem uneingeſchraͤnkten Staate, als in einem ſolchen, wo die Regierung auf gewiſſe Grundgeſetze beruht, be- rechtigt ſey, der Oberherſchaft, wegen zweck- und ge- ſetzwidriger Unternehmungen, den Gehorſam aufzukuͤn- digen? nicht weitlaͤuftig unterſuchen. Die vorzuͤg- lichſten Staatsrechtslehrer ſind indes dahin einverſtan- den,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht02_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht02_1792/300
Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 2. Altenburg, 1792, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht02_1792/300>, abgerufen am 24.11.2024.