Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835.Talleyrand. zu wollen. Er liebt den Krieg jetzt noch weniger alsfrüher; denn er ist alt, steinalt, der erste Kanonen¬ schuß brächte ihn in Vergessenheit. Er ließ Polen un¬ tergehen, gab Italien hin; er hätte Belgien preisgege¬ ben, wenn die Protokolle ihre Wirkung verfehlt hätten; er schuf die Hauspolitik Louis Philipps, und er ists, der die Devise trägt: Friede um jeden Preis! Talley¬ rand ist achtzig Jahre, seine Augenhöhlen werden immer dunkler, er sieht gespenstisch um die Wangenknochen aus, er geht gebückt und fällt immer mehr zusammen. Wie viele Frühlinge werden ihm die Lerchen in Valencay noch singen? Was wollt Ihr nun mit diesem Leben beweisen? Daß es ein Kunstwerk war? Eine Lüge? Ich glaube keines von beiden, und läugne, daß Talley¬ rand ein großer Mann war. Talleyrand erschuf sich seine Schiksale nicht selbst, er machte die Ereignisse nicht. Denkt Euch andere Umstände, und immer wer¬ det Ihr wissen, was Talleyrand unter ihnen gewesen seyn würde. Louis XIV. hätte in ihm einen vortref¬ lichen Geschäftsmann gehabt, der auf Ambassaden durch seine Gewandtheit, und nebenbei in den Salons durch seinen Witz gesiegt hätte. Unter Louis XIII. wäre er nicht einmal Mazarin gewesen; zwischen der Fronde und Ligue, zwischen Heute und Gestern wäre er erdrückt Gutzkow's öffentl. Char. 2
Talleyrand. zu wollen. Er liebt den Krieg jetzt noch weniger alsfruͤher; denn er iſt alt, ſteinalt, der erſte Kanonen¬ ſchuß braͤchte ihn in Vergeſſenheit. Er ließ Polen un¬ tergehen, gab Italien hin; er haͤtte Belgien preisgege¬ ben, wenn die Protokolle ihre Wirkung verfehlt haͤtten; er ſchuf die Hauspolitik Louis Philipps, und er iſts, der die Deviſe traͤgt: Friede um jeden Preis! Talley¬ rand iſt achtzig Jahre, ſeine Augenhoͤhlen werden immer dunkler, er ſieht geſpenſtiſch um die Wangenknochen aus, er geht gebuͤckt und faͤllt immer mehr zuſammen. Wie viele Fruͤhlinge werden ihm die Lerchen in Valençay noch ſingen? Was wollt Ihr nun mit dieſem Leben beweiſen? Daß es ein Kunſtwerk war? Eine Luͤge? Ich glaube keines von beiden, und laͤugne, daß Talley¬ rand ein großer Mann war. Talleyrand erſchuf ſich ſeine Schikſale nicht ſelbſt, er machte die Ereigniſſe nicht. Denkt Euch andere Umſtaͤnde, und immer wer¬ det Ihr wiſſen, was Talleyrand unter ihnen geweſen ſeyn wuͤrde. Louis XIV. haͤtte in ihm einen vortref¬ lichen Geſchaͤftsmann gehabt, der auf Ambaſſaden durch ſeine Gewandtheit, und nebenbei in den Salons durch ſeinen Witz geſiegt haͤtte. Unter Louis XIII. waͤre er nicht einmal Mazarin geweſen; zwiſchen der Fronde und Ligue, zwiſchen Heute und Geſtern waͤre er erdruͤckt Gutzkow's öffentl. Char. 2
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Talleyrand.
zu wollen. Er liebt den Krieg jetzt noch weniger als
fruͤher; denn er iſt alt, ſteinalt, der erſte Kanonen¬
ſchuß braͤchte ihn in Vergeſſenheit. Er ließ Polen un¬
tergehen, gab Italien hin; er haͤtte Belgien preisgege¬
ben, wenn die Protokolle ihre Wirkung verfehlt haͤtten;
er ſchuf die Hauspolitik Louis Philipps, und er iſts,
der die Deviſe traͤgt: Friede um jeden Preis! Talley¬
rand iſt achtzig Jahre, ſeine Augenhoͤhlen werden immer
dunkler, er ſieht geſpenſtiſch um die Wangenknochen aus,
er geht gebuͤckt und faͤllt immer mehr zuſammen. Wie
viele Fruͤhlinge werden ihm die Lerchen in Valençay
noch ſingen? Was wollt Ihr nun mit dieſem Leben
beweiſen? Daß es ein Kunſtwerk war? Eine Luͤge?
Ich glaube keines von beiden, und laͤugne, daß Talley¬
rand ein großer Mann war. Talleyrand erſchuf ſich
ſeine Schikſale nicht ſelbſt, er machte die Ereigniſſe
nicht. Denkt Euch andere Umſtaͤnde, und immer wer¬
det Ihr wiſſen, was Talleyrand unter ihnen geweſen
ſeyn wuͤrde. Louis XIV. haͤtte in ihm einen vortref¬
lichen Geſchaͤftsmann gehabt, der auf Ambaſſaden durch
ſeine Gewandtheit, und nebenbei in den Salons durch
ſeinen Witz geſiegt haͤtte. Unter Louis XIII. waͤre er
nicht einmal Mazarin geweſen; zwiſchen der Fronde und
Ligue, zwiſchen Heute und Geſtern waͤre er erdruͤckt
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