Gutzkow, Karl: Die neuen Serapionsbrüder. Bd. 1. Breslau, 1877.der Vater sagte ausdrücklich: Es giebt Ohren und Augen! Ottomar schwieg erst, dann sicherte er sich in scharfen Ausdrücken das Recht, nachgrade seine eignen Wege gehen zu dürfen, worauf der Vater wieder die Wege beschrieb, die ihm gefielen, was eine neue Replik zur Folge hatte, worauf Ottomar ging. Alles war dann still, sonntagsstill, nur das Rollen der Wagen hörte man. Die Mutter griff nach ihrem Album, um sich zu zerstreuen. Aber die Worte, die ihr ein Dichter hineingeschrieben: "Liebe wächst aus Körnern, die man keinen Säemann streuen sieht", ließen sie das Buch wieder zuschließen. Sie mußte auf ihr liebes Kind Helene blicken, das an's Fenster getreten war, licht und hell sich vom trüben Novemberhimmel abhob, den ächzenden, entlaubten Bäumen nachzuträumen schien, dann sich mit feuchten Augen an ihr Nähtischchen setzte und sich still mit einer Stickerei beschäftigte. Der Vater war ausgegangen. Ottomar mußte die Hoffnung, sich am Tage darauf noch mit dem Vater zu versöhnen, aufgeben. Denn es blieb ihm für heute noch eine Menge von Pflichten auf den Schultern. Am Abend mußte er auf einem Balle erscheinen, zu welchem wirklich die sterbenskranke Frau Doctorin Wolny eingeladen hatte. Justizrath Luzius hatte ihm gesagt, sie wollte, wenn auch conform dem der Vater sagte ausdrücklich: Es giebt Ohren und Augen! Ottomar schwieg erst, dann sicherte er sich in scharfen Ausdrücken das Recht, nachgrade seine eignen Wege gehen zu dürfen, worauf der Vater wieder die Wege beschrieb, die ihm gefielen, was eine neue Replik zur Folge hatte, worauf Ottomar ging. Alles war dann still, sonntagsstill, nur das Rollen der Wagen hörte man. Die Mutter griff nach ihrem Album, um sich zu zerstreuen. Aber die Worte, die ihr ein Dichter hineingeschrieben: „Liebe wächst aus Körnern, die man keinen Säemann streuen sieht“, ließen sie das Buch wieder zuschließen. Sie mußte auf ihr liebes Kind Helene blicken, das an’s Fenster getreten war, licht und hell sich vom trüben Novemberhimmel abhob, den ächzenden, entlaubten Bäumen nachzuträumen schien, dann sich mit feuchten Augen an ihr Nähtischchen setzte und sich still mit einer Stickerei beschäftigte. Der Vater war ausgegangen. Ottomar mußte die Hoffnung, sich am Tage darauf noch mit dem Vater zu versöhnen, aufgeben. Denn es blieb ihm für heute noch eine Menge von Pflichten auf den Schultern. Am Abend mußte er auf einem Balle erscheinen, zu welchem wirklich die sterbenskranke Frau Doctorin Wolny eingeladen hatte. Justizrath Luzius hatte ihm gesagt, sie wollte, wenn auch conform dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0215" n="209"/> der Vater sagte ausdrücklich: Es giebt Ohren und Augen! </p> <p>Ottomar schwieg erst, dann sicherte er sich in scharfen Ausdrücken das Recht, nachgrade seine eignen Wege gehen zu dürfen, worauf der Vater wieder die Wege beschrieb, die ihm gefielen, was eine neue Replik zur Folge hatte, worauf Ottomar ging. Alles war dann still, sonntagsstill, nur das Rollen der Wagen hörte man. Die Mutter griff nach ihrem Album, um sich zu zerstreuen. Aber die Worte, die ihr ein Dichter hineingeschrieben: „<ref xml:id="TEXTLiebeBISsieht" type="editorialNote" target="NSer2E.htm#ERLLiebeBISsieht">Liebe wächst aus Körnern, die man keinen Säemann streuen sieht</ref>“, ließen sie das Buch wieder zuschließen. Sie mußte auf ihr liebes Kind Helene blicken, das an’s Fenster getreten war, licht und hell sich vom trüben Novemberhimmel abhob, den ächzenden, entlaubten Bäumen nachzuträumen schien, dann sich mit feuchten Augen an ihr Nähtischchen setzte und sich still mit einer Stickerei beschäftigte. Der Vater war ausgegangen. </p> <p>Ottomar mußte die Hoffnung, sich am Tage darauf noch mit dem Vater zu versöhnen, aufgeben. Denn es blieb ihm für heute noch eine Menge von Pflichten auf den Schultern. Am Abend mußte er auf einem Balle erscheinen, zu welchem wirklich die sterbenskranke Frau Doctorin Wolny eingeladen hatte. Justizrath Luzius hatte ihm gesagt, sie wollte, wenn auch conform dem </p> </div> </body> </text> </TEI> [209/0215]
der Vater sagte ausdrücklich: Es giebt Ohren und Augen!
Ottomar schwieg erst, dann sicherte er sich in scharfen Ausdrücken das Recht, nachgrade seine eignen Wege gehen zu dürfen, worauf der Vater wieder die Wege beschrieb, die ihm gefielen, was eine neue Replik zur Folge hatte, worauf Ottomar ging. Alles war dann still, sonntagsstill, nur das Rollen der Wagen hörte man. Die Mutter griff nach ihrem Album, um sich zu zerstreuen. Aber die Worte, die ihr ein Dichter hineingeschrieben: „Liebe wächst aus Körnern, die man keinen Säemann streuen sieht“, ließen sie das Buch wieder zuschließen. Sie mußte auf ihr liebes Kind Helene blicken, das an’s Fenster getreten war, licht und hell sich vom trüben Novemberhimmel abhob, den ächzenden, entlaubten Bäumen nachzuträumen schien, dann sich mit feuchten Augen an ihr Nähtischchen setzte und sich still mit einer Stickerei beschäftigte. Der Vater war ausgegangen.
Ottomar mußte die Hoffnung, sich am Tage darauf noch mit dem Vater zu versöhnen, aufgeben. Denn es blieb ihm für heute noch eine Menge von Pflichten auf den Schultern. Am Abend mußte er auf einem Balle erscheinen, zu welchem wirklich die sterbenskranke Frau Doctorin Wolny eingeladen hatte. Justizrath Luzius hatte ihm gesagt, sie wollte, wenn auch conform dem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_serapionsbrueder01_1877 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_serapionsbrueder01_1877/215 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die neuen Serapionsbrüder. Bd. 1. Breslau, 1877, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_serapionsbrueder01_1877/215>, abgerufen am 16.07.2024. |