Nazareth gebürtig, unehelichen Ursprungs, Stiefsohn eines braven Zimmermanns, Namens Joseph. Jesus beschäftigte sich viel mit den Schriften der jüdischen Literatur, reiste, unter¬ richtete sich, und strebte mit edler Selbstüber¬ windung nach einer stoischen Sittenreinheit. Je¬ sus fühlte, daß eine Mission an sein Herz pochte. Es war ihm, als müßte er einen Auftrag er¬ füllen, über den er Zeit seines Lebens nicht im Klaren war. Er adoptirte den Glauben an einen verheißenen König, der seine eitle Nation zur Herrscherin der Welt machen würde: er erschrack aber selbst vor dieser übermüthigen Verheißung, welche einer wahren Idee Gottes gänzlich unwürdig war. Jesus wußte selbst da noch nicht, wohinaus, als er die ersten unbe¬ sonnenen Schritte gethan, als er seinen Freund Johannes auf Kundschaft und Prüfung der Menge vorausgesandt hatte; er wurde Rabbi, ein erlaubter Volkslehrer, er nahm Schüler zu
Nazareth gebürtig, unehelichen Urſprungs, Stiefſohn eines braven Zimmermanns, Namens Joſeph. Jeſus beſchäftigte ſich viel mit den Schriften der jüdiſchen Literatur, reiſte, unter¬ richtete ſich, und ſtrebte mit edler Selbſtüber¬ windung nach einer ſtoiſchen Sittenreinheit. Je¬ ſus fühlte, daß eine Miſſion an ſein Herz pochte. Es war ihm, als müßte er einen Auftrag er¬ füllen, über den er Zeit ſeines Lebens nicht im Klaren war. Er adoptirte den Glauben an einen verheißenen König, der ſeine eitle Nation zur Herrſcherin der Welt machen würde: er erſchrack aber ſelbſt vor dieſer übermüthigen Verheißung, welche einer wahren Idee Gottes gänzlich unwürdig war. Jeſus wußte ſelbſt da noch nicht, wohinaus, als er die erſten unbe¬ ſonnenen Schritte gethan, als er ſeinen Freund Johannes auf Kundſchaft und Prüfung der Menge vorausgeſandt hatte; er wurde Rabbi, ein erlaubter Volkslehrer, er nahm Schüler zu
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[272[270]/0279]
Nazareth gebürtig, unehelichen Urſprungs,
Stiefſohn eines braven Zimmermanns, Namens
Joſeph. Jeſus beſchäftigte ſich viel mit den
Schriften der jüdiſchen Literatur, reiſte, unter¬
richtete ſich, und ſtrebte mit edler Selbſtüber¬
windung nach einer ſtoiſchen Sittenreinheit. Je¬
ſus fühlte, daß eine Miſſion an ſein Herz pochte.
Es war ihm, als müßte er einen Auftrag er¬
füllen, über den er Zeit ſeines Lebens nicht im
Klaren war. Er adoptirte den Glauben an
einen verheißenen König, der ſeine eitle Nation
zur Herrſcherin der Welt machen würde: er
erſchrack aber ſelbſt vor dieſer übermüthigen
Verheißung, welche einer wahren Idee Gottes
gänzlich unwürdig war. Jeſus wußte ſelbſt da
noch nicht, wohinaus, als er die erſten unbe¬
ſonnenen Schritte gethan, als er ſeinen Freund
Johannes auf Kundſchaft und Prüfung der
Menge vorausgeſandt hatte; er wurde Rabbi,
ein erlaubter Volkslehrer, er nahm Schüler zu
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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 272[270]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/279>, abgerufen am 22.11.2024.
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