Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Auf die individuellen Begegnisse eines unglück¬
lichen Menschen wird eine Religion gebaut, eine
Dogmatik, die sich nicht um die Worte seines
Mundes kümmert, sondern seine Fußtapfen als
Paragraphenzeichen nimmt, seine Nägelmaale
als Kapiteleinschnitte: kurz das Christenthum ist
eine Religion, die auf eines Menschen körper¬
lichen Verrichtungen und Leiden gegründet ist,
eine Religion, die das objektive Evangelium
eines Menschen predigt. Armer Rabbi von
Nazareth! Statt, daß sie weinen sollten über
dein wehmüthiges Schicksal, freuen sie sich dei¬
nes Todes und haben ihn lachendes Muthes im
Munde! Die Kreuzigung Jesu wird gar nicht
mehr historisch nachempfunden; sondern da Al¬
les in des unglücklichen Mannes Leben typisch
und als Nothwendigkeit gedeutet wird, so geht
die Theilnahme und das Mitleiden gleichgültig
an dem Schmerze vorüber und sieht am Char¬
freitage immer nur Ostern, bei einem Sterben¬

Auf die individuellen Begegniſſe eines unglück¬
lichen Menſchen wird eine Religion gebaut, eine
Dogmatik, die ſich nicht um die Worte ſeines
Mundes kümmert, ſondern ſeine Fußtapfen als
Paragraphenzeichen nimmt, ſeine Nägelmaale
als Kapiteleinſchnitte: kurz das Chriſtenthum iſt
eine Religion, die auf eines Menſchen körper¬
lichen Verrichtungen und Leiden gegründet iſt,
eine Religion, die das objektive Evangelium
eines Menſchen predigt. Armer Rabbi von
Nazareth! Statt, daß ſie weinen ſollten über
dein wehmüthiges Schickſal, freuen ſie ſich dei¬
nes Todes und haben ihn lachendes Muthes im
Munde! Die Kreuzigung Jeſu wird gar nicht
mehr hiſtoriſch nachempfunden; ſondern da Al¬
les in des unglücklichen Mannes Leben typiſch
und als Nothwendigkeit gedeutet wird, ſo geht
die Theilnahme und das Mitleiden gleichgültig
an dem Schmerze vorüber und ſieht am Char¬
freitage immer nur Oſtern, bei einem Sterben¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0290" n="283[281]"/>
Auf die individuellen Begegni&#x017F;&#x017F;e eines unglück¬<lb/>
lichen Men&#x017F;chen wird eine Religion gebaut, eine<lb/>
Dogmatik, die &#x017F;ich nicht um die Worte &#x017F;eines<lb/>
Mundes kümmert, &#x017F;ondern &#x017F;eine Fußtapfen als<lb/>
Paragraphenzeichen nimmt, &#x017F;eine Nägelmaale<lb/>
als Kapitelein&#x017F;chnitte: kurz das Chri&#x017F;tenthum i&#x017F;t<lb/>
eine Religion, die auf eines Men&#x017F;chen körper¬<lb/>
lichen Verrichtungen und Leiden gegründet i&#x017F;t,<lb/>
eine Religion, die das objektive Evangelium<lb/>
eines Men&#x017F;chen predigt. Armer Rabbi von<lb/>
Nazareth! Statt, daß &#x017F;ie weinen &#x017F;ollten über<lb/>
dein wehmüthiges Schick&#x017F;al, freuen &#x017F;ie &#x017F;ich dei¬<lb/>
nes Todes und haben ihn lachendes Muthes im<lb/>
Munde! Die Kreuzigung Je&#x017F;u wird gar nicht<lb/>
mehr hi&#x017F;tori&#x017F;ch nachempfunden; &#x017F;ondern da Al¬<lb/>
les in des unglücklichen Mannes Leben typi&#x017F;ch<lb/>
und als Nothwendigkeit gedeutet wird, &#x017F;o geht<lb/>
die Theilnahme und das Mitleiden gleichgültig<lb/>
an dem Schmerze vorüber und &#x017F;ieht am Char¬<lb/>
freitage immer nur O&#x017F;tern, bei einem Sterben¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[283[281]/0290] Auf die individuellen Begegniſſe eines unglück¬ lichen Menſchen wird eine Religion gebaut, eine Dogmatik, die ſich nicht um die Worte ſeines Mundes kümmert, ſondern ſeine Fußtapfen als Paragraphenzeichen nimmt, ſeine Nägelmaale als Kapiteleinſchnitte: kurz das Chriſtenthum iſt eine Religion, die auf eines Menſchen körper¬ lichen Verrichtungen und Leiden gegründet iſt, eine Religion, die das objektive Evangelium eines Menſchen predigt. Armer Rabbi von Nazareth! Statt, daß ſie weinen ſollten über dein wehmüthiges Schickſal, freuen ſie ſich dei¬ nes Todes und haben ihn lachendes Muthes im Munde! Die Kreuzigung Jeſu wird gar nicht mehr hiſtoriſch nachempfunden; ſondern da Al¬ les in des unglücklichen Mannes Leben typiſch und als Nothwendigkeit gedeutet wird, ſo geht die Theilnahme und das Mitleiden gleichgültig an dem Schmerze vorüber und ſieht am Char¬ freitage immer nur Oſtern, bei einem Sterben¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/290
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 283[281]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/290>, abgerufen am 22.11.2024.