Sie zitterte bei dieser ächt philanthropischen Vorstellung, welche, wenn sie allgemein würde, die Welt durchaus umgestalten und ihre schwie¬ rigen Fragen im Nu lösen müßte. Sie ließ die Umarmung Cäsars zu: nicht, weil sie ihn liebte, oder aus Egoismus, aus Stolz, einen Mann überwunden zu haben, sondern weil sie sich als das schwache Glied der großen Wesenkette fühlte, die Gott erschaffen hat, weil sie wußte, daß sie ja vor der Wahrheit und Natur ganz nackt und bloß und mitleidswürdig war, weil sie zu¬ letzt glaubte, daß diese heißen Küsse, welche Cäsar auf ihre Lippen drückte, allen Millionen gälte unterm Sternenzelt.
Sehet da eine Scene, wie sie in alten Zeiten nicht vorkam! Hier ist Raffinirtes, Gemachtes, aus der Zerrissenheit unsrer Zeit Gebornes: und was ist die Wahrheit Romeo's und Juliettens gegen diese Lüge! Was ist die
Sie zitterte bei dieſer ächt philanthropiſchen Vorſtellung, welche, wenn ſie allgemein würde, die Welt durchaus umgeſtalten und ihre ſchwie¬ rigen Fragen im Nu löſen müßte. Sie ließ die Umarmung Cäſars zu: nicht, weil ſie ihn liebte, oder aus Egoismus, aus Stolz, einen Mann überwunden zu haben, ſondern weil ſie ſich als das ſchwache Glied der großen Weſenkette fühlte, die Gott erſchaffen hat, weil ſie wußte, daß ſie ja vor der Wahrheit und Natur ganz nackt und bloß und mitleidswürdig war, weil ſie zu¬ letzt glaubte, daß dieſe heißen Küſſe, welche Cäſar auf ihre Lippen drückte, allen Millionen gälte unterm Sternenzelt.
Sehet da eine Scene, wie ſie in alten Zeiten nicht vorkam! Hier iſt Raffinirtes, Gemachtes, aus der Zerriſſenheit unſrer Zeit Gebornes: und was iſt die Wahrheit Romeo's und Juliettens gegen dieſe Lüge! Was iſt die
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Sie zitterte bei dieſer ächt philanthropiſchen
Vorſtellung, welche, wenn ſie allgemein würde,
die Welt durchaus umgeſtalten und ihre ſchwie¬
rigen Fragen im Nu löſen müßte. Sie ließ die
Umarmung Cäſars zu: nicht, weil ſie ihn liebte,
oder aus Egoismus, aus Stolz, einen Mann
überwunden zu haben, ſondern weil ſie ſich als
das ſchwache Glied der großen Weſenkette fühlte,
die Gott erſchaffen hat, weil ſie wußte, daß ſie
ja vor der Wahrheit und Natur ganz nackt
und bloß und mitleidswürdig war, weil ſie zu¬
letzt glaubte, daß dieſe heißen Küſſe, welche
Cäſar auf ihre Lippen drückte, allen Millionen
gälte unterm Sternenzelt.
Sehet da eine Scene, wie ſie in alten
Zeiten nicht vorkam! Hier iſt Raffinirtes,
Gemachtes, aus der Zerriſſenheit unſrer Zeit
Gebornes: und was iſt die Wahrheit Romeo's
und Juliettens gegen dieſe Lüge! Was iſt die
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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/86>, abgerufen am 21.11.2024.
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