Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.verstehen, mag sie auch noch so fein, gewandt und blumenreich seyn. Kehren wir wieder auf die Geschichte der Zeit zurück, so hat der bisherige unpraktische und doch so unruhige Sinn der Zeitgenossen der Entwickelung des Jahrhunderts viel geschadet. Der Trieb der Neuerung vermählte sich mit dem Mangel an Routine und, offen gesagt, auch mit dem Mangel an Urtheil in öffentlichen Angelegenheiten. Vage Theorien, von der rechten und linken Seite kommend, durchkreuzten sich und schnitten sich dabei immer den geringen Verstand ab, den sie allenfalls noch besitzen mochten. Das Meiste davon paßte auf keines der gegebenen Verhältnisse. Die Restauration erfand ein Axiom nach dem andern. Die Freiheit wurde so utopistisch wie der Despotismus. Ein Chaos wirrt sich in einander, das durch hinzuströmende wissenschaftliche, religiöse und gesellschaftliche Neuerungen eher noch mehr verfinstert, als erhellt wurde. Wie sollte dieß enden? wie sollte der soziale Gedanke des Jahrhunderts aus einem solchen Gedränge gerettet werden? Gestehen wir es, die Zeit hat sich selbst zu helfen gewußt. Wir sind der Restaurationsperiode weit entrückt, wenn wir auch Sorge tragen müssen, uns aus einem Zustande des Uebergangs, aus einer nur zur Hülfe erheischten Tendenz des Zeitgeistes zu befreien. Diese Hülfe war aber der Materialismus. Man mag nun die Behauptung tief oder lächerlich finden, ich scheue mich nicht zu gestehen, daß mir die verstehen, mag sie auch noch so fein, gewandt und blumenreich seyn. Kehren wir wieder auf die Geschichte der Zeit zurück, so hat der bisherige unpraktische und doch so unruhige Sinn der Zeitgenossen der Entwickelung des Jahrhunderts viel geschadet. Der Trieb der Neuerung vermählte sich mit dem Mangel an Routine und, offen gesagt, auch mit dem Mangel an Urtheil in öffentlichen Angelegenheiten. Vage Theorien, von der rechten und linken Seite kommend, durchkreuzten sich und schnitten sich dabei immer den geringen Verstand ab, den sie allenfalls noch besitzen mochten. Das Meiste davon paßte auf keines der gegebenen Verhältnisse. Die Restauration erfand ein Axiom nach dem andern. Die Freiheit wurde so utopistisch wie der Despotismus. Ein Chaos wirrt sich in einander, das durch hinzuströmende wissenschaftliche, religiöse und gesellschaftliche Neuerungen eher noch mehr verfinstert, als erhellt wurde. Wie sollte dieß enden? wie sollte der soziale Gedanke des Jahrhunderts aus einem solchen Gedränge gerettet werden? Gestehen wir es, die Zeit hat sich selbst zu helfen gewußt. Wir sind der Restaurationsperiode weit entrückt, wenn wir auch Sorge tragen müssen, uns aus einem Zustande des Uebergangs, aus einer nur zur Hülfe erheischten Tendenz des Zeitgeistes zu befreien. Diese Hülfe war aber der Materialismus. Man mag nun die Behauptung tief oder lächerlich finden, ich scheue mich nicht zu gestehen, daß mir die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0129" n="101"/> verstehen, mag sie auch noch so fein, gewandt und blumenreich seyn.</p> <p>Kehren wir wieder auf die Geschichte der Zeit zurück, so hat der bisherige unpraktische und doch so unruhige Sinn der Zeitgenossen der Entwickelung des Jahrhunderts viel geschadet. Der Trieb der Neuerung vermählte sich mit dem Mangel an Routine und, offen gesagt, auch mit dem Mangel an Urtheil in öffentlichen Angelegenheiten. Vage Theorien, von der rechten und linken Seite kommend, durchkreuzten sich und schnitten sich dabei immer den geringen Verstand ab, den sie allenfalls noch besitzen mochten. Das Meiste davon paßte auf keines der gegebenen Verhältnisse. Die Restauration erfand ein Axiom nach dem andern. Die Freiheit wurde so utopistisch wie der Despotismus. Ein Chaos wirrt sich in einander, das durch hinzuströmende wissenschaftliche, religiöse und gesellschaftliche Neuerungen eher noch mehr verfinstert, als erhellt wurde. Wie sollte dieß enden? wie sollte der soziale Gedanke des Jahrhunderts aus einem solchen Gedränge gerettet werden? Gestehen wir es, die Zeit hat sich selbst zu helfen gewußt. Wir sind der Restaurationsperiode weit entrückt, wenn wir auch Sorge tragen müssen, uns aus einem Zustande des Uebergangs, aus einer nur zur Hülfe erheischten Tendenz des Zeitgeistes zu befreien. Diese Hülfe war aber der Materialismus.</p> <p>Man mag nun die Behauptung tief oder lächerlich finden, ich scheue mich nicht zu gestehen, daß mir die </p> </div> </body> </text> </TEI> [101/0129]
verstehen, mag sie auch noch so fein, gewandt und blumenreich seyn.
Kehren wir wieder auf die Geschichte der Zeit zurück, so hat der bisherige unpraktische und doch so unruhige Sinn der Zeitgenossen der Entwickelung des Jahrhunderts viel geschadet. Der Trieb der Neuerung vermählte sich mit dem Mangel an Routine und, offen gesagt, auch mit dem Mangel an Urtheil in öffentlichen Angelegenheiten. Vage Theorien, von der rechten und linken Seite kommend, durchkreuzten sich und schnitten sich dabei immer den geringen Verstand ab, den sie allenfalls noch besitzen mochten. Das Meiste davon paßte auf keines der gegebenen Verhältnisse. Die Restauration erfand ein Axiom nach dem andern. Die Freiheit wurde so utopistisch wie der Despotismus. Ein Chaos wirrt sich in einander, das durch hinzuströmende wissenschaftliche, religiöse und gesellschaftliche Neuerungen eher noch mehr verfinstert, als erhellt wurde. Wie sollte dieß enden? wie sollte der soziale Gedanke des Jahrhunderts aus einem solchen Gedränge gerettet werden? Gestehen wir es, die Zeit hat sich selbst zu helfen gewußt. Wir sind der Restaurationsperiode weit entrückt, wenn wir auch Sorge tragen müssen, uns aus einem Zustande des Uebergangs, aus einer nur zur Hülfe erheischten Tendenz des Zeitgeistes zu befreien. Diese Hülfe war aber der Materialismus.
Man mag nun die Behauptung tief oder lächerlich finden, ich scheue mich nicht zu gestehen, daß mir die
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/129>, abgerufen am 16.02.2025. |