Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.ohne aufzustehen, als nur um ein verbogenes elastisches Schnürleib mit einem frischen zu vertauschen, und dann nach fünf Jahren der friedfertigsten Ergebenheit doch um nichts gebessert, höchstens daran gewöhnt, durch eine gute Haltung seinen Schaden zu verdecken! Was kann schmerzlicher seyn! Miß Sylvia lächelt über diese Ausrufung; denn sie hält jene fünfjährige Folter für ihr Glück; sie hat während desselben Alles gelernt, Geschichte, Sprachen, Naturkunde, nur nicht Musik, nicht einmal Singen, weil es ihr geschadet hätte. Sie hat sich einen Schatz von Kenntnissen erworben und bewahrt ihn in einem Gefäße der lautersten Herzensgüte, der rührendsten Bescheidenheit. Denn man denke nur: diese Fülle von Wissen ist mit keinem körperlichen Liebreiz, sondern nur mit einer sanften zitternden Stimme verbunden, von der sie selbst nicht ahnt, wie bezaubernd sie damit wirkt. Sie kann ihren Geist und die Kenntnisse, womit sie ihn zu nähren weiß, nicht als Folie einer lockenden Repräsentation brauchen; sie weiß so viel und ist so bescheiden darauf! Miß Sylvia hatte ihr ganzes Vermögen auf dem Streckbette verlegen; als sie nach fünf Jahren, in ihrem achtzehnten Jahre, zum ersten Male von dem Bett des Prokrustes befreit war, wußte sie nicht, wie sie auf ihren Füßen stehen sollte, ja, um figürlich zu reden, sie wußte auch nicht, auf welchem Fuße sie leben sollte. Sie hatte keine Aeltern, keine Verwandte, sie hatte nur sich selbst, ihre Unschönheit, ihre Geduld. Eines Tages stand in allen Abendblättern: A young lady, ohne aufzustehen, als nur um ein verbogenes elastisches Schnürleib mit einem frischen zu vertauschen, und dann nach fünf Jahren der friedfertigsten Ergebenheit doch um nichts gebessert, höchstens daran gewöhnt, durch eine gute Haltung seinen Schaden zu verdecken! Was kann schmerzlicher seyn! Miß Sylvia lächelt über diese Ausrufung; denn sie hält jene fünfjährige Folter für ihr Glück; sie hat während desselben Alles gelernt, Geschichte, Sprachen, Naturkunde, nur nicht Musik, nicht einmal Singen, weil es ihr geschadet hätte. Sie hat sich einen Schatz von Kenntnissen erworben und bewahrt ihn in einem Gefäße der lautersten Herzensgüte, der rührendsten Bescheidenheit. Denn man denke nur: diese Fülle von Wissen ist mit keinem körperlichen Liebreiz, sondern nur mit einer sanften zitternden Stimme verbunden, von der sie selbst nicht ahnt, wie bezaubernd sie damit wirkt. Sie kann ihren Geist und die Kenntnisse, womit sie ihn zu nähren weiß, nicht als Folie einer lockenden Repräsentation brauchen; sie weiß so viel und ist so bescheiden darauf! Miß Sylvia hatte ihr ganzes Vermögen auf dem Streckbette verlegen; als sie nach fünf Jahren, in ihrem achtzehnten Jahre, zum ersten Male von dem Bett des Prokrustes befreit war, wußte sie nicht, wie sie auf ihren Füßen stehen sollte, ja, um figürlich zu reden, sie wußte auch nicht, auf welchem Fuße sie leben sollte. Sie hatte keine Aeltern, keine Verwandte, sie hatte nur sich selbst, ihre Unschönheit, ihre Geduld. Eines Tages stand in allen Abendblättern: A young lady, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0396" n="368"/> ohne aufzustehen, als nur um ein verbogenes elastisches Schnürleib mit einem frischen zu vertauschen, und dann nach fünf Jahren der friedfertigsten Ergebenheit doch um nichts gebessert, höchstens daran gewöhnt, durch eine gute Haltung seinen Schaden zu verdecken! Was kann schmerzlicher seyn! Miß Sylvia lächelt über diese Ausrufung; denn sie hält jene fünfjährige Folter für ihr Glück; sie hat während desselben Alles gelernt, Geschichte, Sprachen, Naturkunde, nur nicht Musik, nicht einmal Singen, weil es ihr geschadet hätte. Sie hat sich einen Schatz von Kenntnissen erworben und bewahrt ihn in einem Gefäße der lautersten Herzensgüte, der rührendsten Bescheidenheit. Denn man denke nur: diese Fülle von Wissen ist mit keinem körperlichen Liebreiz, sondern nur mit einer sanften zitternden Stimme verbunden, von der sie selbst nicht ahnt, wie bezaubernd sie damit wirkt. Sie kann ihren Geist und die Kenntnisse, womit sie ihn zu nähren weiß, nicht als Folie einer lockenden Repräsentation brauchen; sie weiß so viel und ist so bescheiden darauf! Miß Sylvia hatte ihr ganzes Vermögen auf dem Streckbette verlegen; als sie nach fünf Jahren, in ihrem achtzehnten Jahre, zum ersten Male von dem Bett des Prokrustes befreit war, wußte sie nicht, wie sie auf ihren Füßen stehen sollte, ja, um figürlich zu reden, sie wußte auch nicht, auf welchem Fuße sie leben sollte. Sie hatte keine Aeltern, keine Verwandte, sie hatte nur sich selbst, ihre Unschönheit, ihre Geduld. Eines Tages stand in allen Abendblättern: <hi rendition="#aq">A young lady, </hi></p> </div> </body> </text> </TEI> [368/0396]
ohne aufzustehen, als nur um ein verbogenes elastisches Schnürleib mit einem frischen zu vertauschen, und dann nach fünf Jahren der friedfertigsten Ergebenheit doch um nichts gebessert, höchstens daran gewöhnt, durch eine gute Haltung seinen Schaden zu verdecken! Was kann schmerzlicher seyn! Miß Sylvia lächelt über diese Ausrufung; denn sie hält jene fünfjährige Folter für ihr Glück; sie hat während desselben Alles gelernt, Geschichte, Sprachen, Naturkunde, nur nicht Musik, nicht einmal Singen, weil es ihr geschadet hätte. Sie hat sich einen Schatz von Kenntnissen erworben und bewahrt ihn in einem Gefäße der lautersten Herzensgüte, der rührendsten Bescheidenheit. Denn man denke nur: diese Fülle von Wissen ist mit keinem körperlichen Liebreiz, sondern nur mit einer sanften zitternden Stimme verbunden, von der sie selbst nicht ahnt, wie bezaubernd sie damit wirkt. Sie kann ihren Geist und die Kenntnisse, womit sie ihn zu nähren weiß, nicht als Folie einer lockenden Repräsentation brauchen; sie weiß so viel und ist so bescheiden darauf! Miß Sylvia hatte ihr ganzes Vermögen auf dem Streckbette verlegen; als sie nach fünf Jahren, in ihrem achtzehnten Jahre, zum ersten Male von dem Bett des Prokrustes befreit war, wußte sie nicht, wie sie auf ihren Füßen stehen sollte, ja, um figürlich zu reden, sie wußte auch nicht, auf welchem Fuße sie leben sollte. Sie hatte keine Aeltern, keine Verwandte, sie hatte nur sich selbst, ihre Unschönheit, ihre Geduld. Eines Tages stand in allen Abendblättern: A young lady,
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