Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

Bild:
<< vorherige Seite

Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft ihnen für immer in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam, als aktiver Freiheit bestand. Diese Moral war dasselbe, was die Religion war; sie lehrte, wenn man ein Prinzip ihr substituiren will, die Entsagung als das nächste Pflichtgebot. Diese Tugend hat noch nicht aufgehört, geübt und präkonisirt zu werden. Allein, welches ist der Unterschied? Die alte Welt entsagte, weil sie besaß; die neue entsagt, weil sie nicht erreichen kann. Jene wollte sich des Stolzes entledigen, diese der Leidenschaft. Jene brauchte, um ihr Ziel zu erreichen, ebenso sehr die Leidenschaft als Mittel, wie diese wenigstens das Eine, den Stolz, als Frucht ihrer Tugend sich zu sichern sucht.

Das egoistische Prinzip des vorigen Jahrhunderts hat sich reiner bewährt, als sich das ähnliche des unsrigen bewähren wird. Früher strebte man nach einem philosophischen, jetzt nach einem materiellen Eudämonismus. Man kann dagegen nicht ungerecht seyn, wenn man bedenkt, daß der alten Zeit das Prinzipienleben auch weniger schwierig gemacht war, als der unsrigen, die sich so viel mit der Allgemeinheit zu beschäftigen hat. Unser neuester Egoismus ist in der That die Folge eines Zwanges, ist eine Nothwehr, die uns schützen muß, unterzugehen in dem Meere der Massen und der tausend Jnteressen, die sich stoßen und drängen, und wo leider so oft nur der siegt, welcher die meisten Rippenstöße austheilen kann.

Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft ihnen für immer in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam, als aktiver Freiheit bestand. Diese Moral war dasselbe, was die Religion war; sie lehrte, wenn man ein Prinzip ihr substituiren will, die Entsagung als das nächste Pflichtgebot. Diese Tugend hat noch nicht aufgehört, geübt und präkonisirt zu werden. Allein, welches ist der Unterschied? Die alte Welt entsagte, weil sie besaß; die neue entsagt, weil sie nicht erreichen kann. Jene wollte sich des Stolzes entledigen, diese der Leidenschaft. Jene brauchte, um ihr Ziel zu erreichen, ebenso sehr die Leidenschaft als Mittel, wie diese wenigstens das Eine, den Stolz, als Frucht ihrer Tugend sich zu sichern sucht.

Das egoistische Prinzip des vorigen Jahrhunderts hat sich reiner bewährt, als sich das ähnliche des unsrigen bewähren wird. Früher strebte man nach einem philosophischen, jetzt nach einem materiellen Eudämonismus. Man kann dagegen nicht ungerecht seyn, wenn man bedenkt, daß der alten Zeit das Prinzipienleben auch weniger schwierig gemacht war, als der unsrigen, die sich so viel mit der Allgemeinheit zu beschäftigen hat. Unser neuester Egoismus ist in der That die Folge eines Zwanges, ist eine Nothwehr, die uns schützen muß, unterzugehen in dem Meere der Massen und der tausend Jnteressen, die sich stoßen und drängen, und wo leider so oft nur der siegt, welcher die meisten Rippenstöße austheilen kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0085" n="57"/>
Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft ihnen für immer in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam, als aktiver Freiheit bestand. Diese Moral war dasselbe, was die Religion war; sie lehrte, wenn man ein Prinzip ihr substituiren will, die Entsagung als das nächste Pflichtgebot. Diese Tugend hat noch nicht aufgehört, geübt und präkonisirt zu werden. Allein, welches ist der Unterschied? Die alte Welt entsagte, weil sie besaß; die neue entsagt, weil sie nicht erreichen kann. Jene wollte sich des Stolzes entledigen, diese der Leidenschaft. Jene brauchte, um ihr Ziel zu erreichen, ebenso sehr die Leidenschaft als Mittel, wie diese wenigstens das Eine, den Stolz, als Frucht ihrer Tugend sich zu sichern sucht.</p>
        <p>Das egoistische Prinzip des vorigen Jahrhunderts hat sich reiner bewährt, als sich das ähnliche des unsrigen bewähren wird. Früher strebte man nach einem philosophischen, jetzt nach einem materiellen Eudämonismus. Man kann dagegen nicht ungerecht seyn, wenn man bedenkt, daß der alten Zeit das Prinzipienleben auch weniger schwierig gemacht war, als der unsrigen, die sich so viel mit der Allgemeinheit zu beschäftigen hat. Unser neuester Egoismus ist in der That die Folge eines Zwanges, ist eine Nothwehr, die uns schützen muß, unterzugehen in dem Meere der Massen und der tausend Jnteressen, die sich stoßen und drängen, und wo leider so oft nur der siegt, welcher die meisten Rippenstöße austheilen kann.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0085] Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft ihnen für immer in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam, als aktiver Freiheit bestand. Diese Moral war dasselbe, was die Religion war; sie lehrte, wenn man ein Prinzip ihr substituiren will, die Entsagung als das nächste Pflichtgebot. Diese Tugend hat noch nicht aufgehört, geübt und präkonisirt zu werden. Allein, welches ist der Unterschied? Die alte Welt entsagte, weil sie besaß; die neue entsagt, weil sie nicht erreichen kann. Jene wollte sich des Stolzes entledigen, diese der Leidenschaft. Jene brauchte, um ihr Ziel zu erreichen, ebenso sehr die Leidenschaft als Mittel, wie diese wenigstens das Eine, den Stolz, als Frucht ihrer Tugend sich zu sichern sucht. Das egoistische Prinzip des vorigen Jahrhunderts hat sich reiner bewährt, als sich das ähnliche des unsrigen bewähren wird. Früher strebte man nach einem philosophischen, jetzt nach einem materiellen Eudämonismus. Man kann dagegen nicht ungerecht seyn, wenn man bedenkt, daß der alten Zeit das Prinzipienleben auch weniger schwierig gemacht war, als der unsrigen, die sich so viel mit der Allgemeinheit zu beschäftigen hat. Unser neuester Egoismus ist in der That die Folge eines Zwanges, ist eine Nothwehr, die uns schützen muß, unterzugehen in dem Meere der Massen und der tausend Jnteressen, die sich stoßen und drängen, und wo leider so oft nur der siegt, welcher die meisten Rippenstöße austheilen kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-09-13T12:39:16Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/85
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/85>, abgerufen am 24.11.2024.