Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.ihm beigesellt wird; so erlaubt uns wenigstens, die Gefängnisse zu besuchen und den zu retten, der zu retten ist. Die Geistlichen, welche von ihren Pfründen leben, sollten sich diesem Geschäfte widmen. Sie sollten nicht nur die verstockten, sondern gerade die offenen Sünder zu bekehren suchen. Jn der Kirche gleichen die Menschen alle jenem Pharisäer: im Zuchthause würden sie sich alle, wie der Zöllner, an die Brust schlagen müssen. Die Predigt alle Sonntage verbessert die Moral unseres Jahrhunderts nicht. Die sogenannte Kinderlehre dient nur dazu, den Uebermuth der aufwachsenden Jugend kaum zu dämpfen. Was haben eigentlich die Geistlichen zu thun? Sie bedenken am Samstag, was sie am Sonntag predigen wollen. Am Montag und am Donnerstag unterrichten sie eine Stunde lang die Knaben, am Dienstag und Freitag die Mädchen ihres Sprengels. Sie haben eine Taufe, eine Trauung zu verrichten, sie beten zuweilen am Grabe eines Verstorbenen. Für etwa acht Stunden geistlicher Verrichtungen also dienen acht Tage Vorbereitung? Einem Laien könnte das gestattet seyn, etwa einem Quäker, der über die Reden, die er halten will, sein Handwerk vernachläßigt; allein dem Geistlichen sollte sein Amt immer gegenwärtig, sein Gedächtniß immer vorbereitet seyn. Die Geistlichen könnten also wohl ihre Muße anwenden, die Gefängnisse zu besuchen und die Segnungen des Christenthums gerade da anzubieten, wo sie bisher ihm beigesellt wird; so erlaubt uns wenigstens, die Gefängnisse zu besuchen und den zu retten, der zu retten ist. Die Geistlichen, welche von ihren Pfründen leben, sollten sich diesem Geschäfte widmen. Sie sollten nicht nur die verstockten, sondern gerade die offenen Sünder zu bekehren suchen. Jn der Kirche gleichen die Menschen alle jenem Pharisäer: im Zuchthause würden sie sich alle, wie der Zöllner, an die Brust schlagen müssen. Die Predigt alle Sonntage verbessert die Moral unseres Jahrhunderts nicht. Die sogenannte Kinderlehre dient nur dazu, den Uebermuth der aufwachsenden Jugend kaum zu dämpfen. Was haben eigentlich die Geistlichen zu thun? Sie bedenken am Samstag, was sie am Sonntag predigen wollen. Am Montag und am Donnerstag unterrichten sie eine Stunde lang die Knaben, am Dienstag und Freitag die Mädchen ihres Sprengels. Sie haben eine Taufe, eine Trauung zu verrichten, sie beten zuweilen am Grabe eines Verstorbenen. Für etwa acht Stunden geistlicher Verrichtungen also dienen acht Tage Vorbereitung? Einem Laien könnte das gestattet seyn, etwa einem Quäker, der über die Reden, die er halten will, sein Handwerk vernachläßigt; allein dem Geistlichen sollte sein Amt immer gegenwärtig, sein Gedächtniß immer vorbereitet seyn. Die Geistlichen könnten also wohl ihre Muße anwenden, die Gefängnisse zu besuchen und die Segnungen des Christenthums gerade da anzubieten, wo sie bisher <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0100" n="98"/> ihm beigesellt wird; so erlaubt uns wenigstens, die Gefängnisse zu besuchen und den zu retten, der zu retten ist. Die Geistlichen, welche von ihren Pfründen leben, sollten sich diesem Geschäfte widmen. Sie sollten nicht nur die verstockten, sondern gerade die offenen Sünder zu bekehren suchen. Jn der Kirche gleichen die Menschen alle jenem Pharisäer: im Zuchthause würden sie sich alle, wie der Zöllner, an die Brust schlagen müssen. Die Predigt alle Sonntage verbessert die Moral unseres Jahrhunderts nicht. Die sogenannte Kinderlehre dient nur dazu, den Uebermuth der aufwachsenden Jugend <hi rendition="#g">kaum</hi> zu dämpfen. Was haben eigentlich die Geistlichen zu thun? Sie bedenken am Samstag, was sie am Sonntag predigen wollen. Am Montag und am Donnerstag unterrichten sie <hi rendition="#g">eine</hi> Stunde lang die Knaben, am Dienstag und Freitag die Mädchen ihres Sprengels. Sie haben eine Taufe, eine Trauung zu verrichten, sie beten zuweilen am Grabe eines Verstorbenen. Für etwa acht Stunden geistlicher Verrichtungen also dienen acht Tage Vorbereitung? Einem Laien könnte das gestattet seyn, etwa einem Quäker, der über die Reden, die er halten will, sein Handwerk vernachläßigt; allein dem Geistlichen sollte sein Amt immer gegenwärtig, sein Gedächtniß immer vorbereitet seyn. Die Geistlichen könnten also wohl ihre Muße anwenden, die Gefängnisse zu besuchen und die Segnungen des Christenthums gerade da anzubieten, wo sie bisher </p> </div> </body> </text> </TEI> [98/0100]
ihm beigesellt wird; so erlaubt uns wenigstens, die Gefängnisse zu besuchen und den zu retten, der zu retten ist. Die Geistlichen, welche von ihren Pfründen leben, sollten sich diesem Geschäfte widmen. Sie sollten nicht nur die verstockten, sondern gerade die offenen Sünder zu bekehren suchen. Jn der Kirche gleichen die Menschen alle jenem Pharisäer: im Zuchthause würden sie sich alle, wie der Zöllner, an die Brust schlagen müssen. Die Predigt alle Sonntage verbessert die Moral unseres Jahrhunderts nicht. Die sogenannte Kinderlehre dient nur dazu, den Uebermuth der aufwachsenden Jugend kaum zu dämpfen. Was haben eigentlich die Geistlichen zu thun? Sie bedenken am Samstag, was sie am Sonntag predigen wollen. Am Montag und am Donnerstag unterrichten sie eine Stunde lang die Knaben, am Dienstag und Freitag die Mädchen ihres Sprengels. Sie haben eine Taufe, eine Trauung zu verrichten, sie beten zuweilen am Grabe eines Verstorbenen. Für etwa acht Stunden geistlicher Verrichtungen also dienen acht Tage Vorbereitung? Einem Laien könnte das gestattet seyn, etwa einem Quäker, der über die Reden, die er halten will, sein Handwerk vernachläßigt; allein dem Geistlichen sollte sein Amt immer gegenwärtig, sein Gedächtniß immer vorbereitet seyn. Die Geistlichen könnten also wohl ihre Muße anwenden, die Gefängnisse zu besuchen und die Segnungen des Christenthums gerade da anzubieten, wo sie bisher
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/100>, abgerufen am 16.07.2024. |