Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.dürfte. Das große Gesetz für die Zukunft wird sich geltend machen, daß es keine Kirche mehr, sondern nur noch Wahlverwandtschaften gibt und daß die Gemeinde nicht mehr aus solchen besteht, die zusammen gerufen werden, sondern die sich selbst zusammen finden. Es gibt keine Religion und kein Christenthum mehr ohne Ueberzeugung, und deßhalb ist der Glaube die Sache des Einzelnen geworden. Wenn man nun aber doch bei dem in Religionssachen herrschenden Freimuth anerkennen muß, daß in unserer Zeit selbst der Jndifferentismus die gute Seite hat, daß er wenigstens eine Verspottung des Heiligen nicht zu äußern wagt, und wenn sich sogar eine weit größere Jnnigkeit aus den Gemüthern der Menschen hervorarbeitete, und religiöse Empfindungen hie und da zu wunderlich überreiztem Ausbruch kommen ließ, so mußten mancherlei Ursachen dazu beitragen, einen solchen Umschwung in der Stimmung und Gesinnung der Zeitgenossen hervorzubringen. Zunächst klang, verborgen zwar und still, aber doch rein und lauter, aus dem vorigen Jahrhundert selbst ein frommer Ton herüber, oder wenigstens ein solcher, der zunehmend und sich verstärkend wohl dem Läuten der Kirchenglocke ähnlich kam. Der Esprit und die Frivolität jener Zeit konnten das Herz nicht befriedigen, und wenn auch nur Wenige ein so ernstes Streben nach Wahrheit in sich pflegten, daß sie, angewidert von dem spirituellen Leichtsinn jener Zeit, oder gar in Schrecken dürfte. Das große Gesetz für die Zukunft wird sich geltend machen, daß es keine Kirche mehr, sondern nur noch Wahlverwandtschaften gibt und daß die Gemeinde nicht mehr aus solchen besteht, die zusammen gerufen werden, sondern die sich selbst zusammen finden. Es gibt keine Religion und kein Christenthum mehr ohne Ueberzeugung, und deßhalb ist der Glaube die Sache des Einzelnen geworden. Wenn man nun aber doch bei dem in Religionssachen herrschenden Freimuth anerkennen muß, daß in unserer Zeit selbst der Jndifferentismus die gute Seite hat, daß er wenigstens eine Verspottung des Heiligen nicht zu äußern wagt, und wenn sich sogar eine weit größere Jnnigkeit aus den Gemüthern der Menschen hervorarbeitete, und religiöse Empfindungen hie und da zu wunderlich überreiztem Ausbruch kommen ließ, so mußten mancherlei Ursachen dazu beitragen, einen solchen Umschwung in der Stimmung und Gesinnung der Zeitgenossen hervorzubringen. Zunächst klang, verborgen zwar und still, aber doch rein und lauter, aus dem vorigen Jahrhundert selbst ein frommer Ton herüber, oder wenigstens ein solcher, der zunehmend und sich verstärkend wohl dem Läuten der Kirchenglocke ähnlich kam. Der Esprit und die Frivolität jener Zeit konnten das Herz nicht befriedigen, und wenn auch nur Wenige ein so ernstes Streben nach Wahrheit in sich pflegten, daß sie, angewidert von dem spirituellen Leichtsinn jener Zeit, oder gar in Schrecken <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0151" n="149"/> dürfte. Das große Gesetz für die Zukunft wird sich geltend machen, daß es keine Kirche mehr, sondern nur noch Wahlverwandtschaften gibt und daß die Gemeinde nicht mehr aus solchen besteht, die zusammen <hi rendition="#g">gerufen</hi> werden, sondern die sich <hi rendition="#g">selbst</hi> zusammen finden. Es gibt keine Religion und kein Christenthum mehr ohne Ueberzeugung, und deßhalb ist der Glaube die Sache des Einzelnen geworden.</p> <p>Wenn man nun aber doch bei dem in Religionssachen herrschenden Freimuth anerkennen muß, daß in unserer Zeit selbst der Jndifferentismus die gute Seite hat, daß er wenigstens eine Verspottung des Heiligen nicht zu äußern wagt, und wenn sich sogar eine weit größere Jnnigkeit aus den Gemüthern der Menschen hervorarbeitete, und religiöse Empfindungen hie und da zu wunderlich überreiztem Ausbruch kommen ließ, so mußten mancherlei Ursachen dazu beitragen, einen solchen Umschwung in der Stimmung und Gesinnung der Zeitgenossen hervorzubringen. Zunächst klang, verborgen zwar und still, aber doch rein und lauter, aus dem vorigen Jahrhundert selbst ein frommer Ton herüber, oder wenigstens ein solcher, der zunehmend und sich verstärkend wohl dem Läuten der Kirchenglocke ähnlich kam. Der Esprit und die Frivolität jener Zeit konnten das <hi rendition="#g">Herz</hi> nicht befriedigen, und wenn auch nur Wenige ein so ernstes Streben nach Wahrheit in sich pflegten, daß sie, angewidert von dem spirituellen Leichtsinn jener Zeit, oder gar in Schrecken </p> </div> </body> </text> </TEI> [149/0151]
dürfte. Das große Gesetz für die Zukunft wird sich geltend machen, daß es keine Kirche mehr, sondern nur noch Wahlverwandtschaften gibt und daß die Gemeinde nicht mehr aus solchen besteht, die zusammen gerufen werden, sondern die sich selbst zusammen finden. Es gibt keine Religion und kein Christenthum mehr ohne Ueberzeugung, und deßhalb ist der Glaube die Sache des Einzelnen geworden.
Wenn man nun aber doch bei dem in Religionssachen herrschenden Freimuth anerkennen muß, daß in unserer Zeit selbst der Jndifferentismus die gute Seite hat, daß er wenigstens eine Verspottung des Heiligen nicht zu äußern wagt, und wenn sich sogar eine weit größere Jnnigkeit aus den Gemüthern der Menschen hervorarbeitete, und religiöse Empfindungen hie und da zu wunderlich überreiztem Ausbruch kommen ließ, so mußten mancherlei Ursachen dazu beitragen, einen solchen Umschwung in der Stimmung und Gesinnung der Zeitgenossen hervorzubringen. Zunächst klang, verborgen zwar und still, aber doch rein und lauter, aus dem vorigen Jahrhundert selbst ein frommer Ton herüber, oder wenigstens ein solcher, der zunehmend und sich verstärkend wohl dem Läuten der Kirchenglocke ähnlich kam. Der Esprit und die Frivolität jener Zeit konnten das Herz nicht befriedigen, und wenn auch nur Wenige ein so ernstes Streben nach Wahrheit in sich pflegten, daß sie, angewidert von dem spirituellen Leichtsinn jener Zeit, oder gar in Schrecken
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