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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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höchsten Sittengesetze ab. Der eine sagte: "Halte immer die Mitte," der andere: "Thue, was deiner Würde gemäß ist;" der dritte hielt das etwas egoistische christliche Sittengesetz: "Was du nicht willst, das dir die Leute thun sollen, das thue ihnen auch nicht!" für diejenige Maxime, nach welcher die menschlichen Schritte einzurichten wären. Auf unsern Universitätskathedern streiten sich die Professoren noch über das höchste Sittengesetz. Allein nur diejenige Ansicht hat in der Masse Raum gewonnen, welche das Gute, Edle und Richtige für etwas dem natürlichen Gefühle Angebornes hält. Dieser kategorische Jmperativ ist allmälig an die Stelle der Sitten und Gesetze getreten. Kein Mensch will noch etwas befolgen, was er von seinen Aeltern ererbt hat, sondern jeder strebt darnach, sich seine eigenen Grundsätze zu bilden. Sogar die bunte Mannigfaltigkeit der Jndividuen und Charaktere, wie ohnehin schon längst die der Sitten, geht dabei verloren, weil nämlich Alles nach Normalität strebt und im Grunde Einer vor dem Andern sich nur durch Talent, nicht durch Manieren auszeichnen will. Die Sitte ist dadurch sehr versteckt und ein Kapitel über sie sehr schwierig geworden.

Wer möchte läugnen, daß sich unser Jahrhundert in einer moralischen Krisis befindet? Die Gesetze gelten nichts, weil sie nur für die Verbrecher da sind; die Moral hält die äußere Ordnung unsres Zusammenlebens aufrecht, allein auch sie wird

höchsten Sittengesetze ab. Der eine sagte: "Halte immer die Mitte," der andere: "Thue, was deiner Würde gemäß ist;" der dritte hielt das etwas egoistische christliche Sittengesetz: "Was du nicht willst, das dir die Leute thun sollen, das thue ihnen auch nicht!" für diejenige Maxime, nach welcher die menschlichen Schritte einzurichten wären. Auf unsern Universitätskathedern streiten sich die Professoren noch über das höchste Sittengesetz. Allein nur diejenige Ansicht hat in der Masse Raum gewonnen, welche das Gute, Edle und Richtige für etwas dem natürlichen Gefühle Angebornes hält. Dieser kategorische Jmperativ ist allmälig an die Stelle der Sitten und Gesetze getreten. Kein Mensch will noch etwas befolgen, was er von seinen Aeltern ererbt hat, sondern jeder strebt darnach, sich seine eigenen Grundsätze zu bilden. Sogar die bunte Mannigfaltigkeit der Jndividuen und Charaktere, wie ohnehin schon längst die der Sitten, geht dabei verloren, weil nämlich Alles nach Normalität strebt und im Grunde Einer vor dem Andern sich nur durch Talent, nicht durch Manieren auszeichnen will. Die Sitte ist dadurch sehr versteckt und ein Kapitel über sie sehr schwierig geworden.

Wer möchte läugnen, daß sich unser Jahrhundert in einer moralischen Krisis befindet? Die Gesetze gelten nichts, weil sie nur für die Verbrecher da sind; die Moral hält die äußere Ordnung unsres Zusammenlebens aufrecht, allein auch sie wird

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[23/0025] höchsten Sittengesetze ab. Der eine sagte: "Halte immer die Mitte," der andere: "Thue, was deiner Würde gemäß ist;" der dritte hielt das etwas egoistische christliche Sittengesetz: "Was du nicht willst, das dir die Leute thun sollen, das thue ihnen auch nicht!" für diejenige Maxime, nach welcher die menschlichen Schritte einzurichten wären. Auf unsern Universitätskathedern streiten sich die Professoren noch über das höchste Sittengesetz. Allein nur diejenige Ansicht hat in der Masse Raum gewonnen, welche das Gute, Edle und Richtige für etwas dem natürlichen Gefühle Angebornes hält. Dieser kategorische Jmperativ ist allmälig an die Stelle der Sitten und Gesetze getreten. Kein Mensch will noch etwas befolgen, was er von seinen Aeltern ererbt hat, sondern jeder strebt darnach, sich seine eigenen Grundsätze zu bilden. Sogar die bunte Mannigfaltigkeit der Jndividuen und Charaktere, wie ohnehin schon längst die der Sitten, geht dabei verloren, weil nämlich Alles nach Normalität strebt und im Grunde Einer vor dem Andern sich nur durch Talent, nicht durch Manieren auszeichnen will. Die Sitte ist dadurch sehr versteckt und ein Kapitel über sie sehr schwierig geworden. Wer möchte läugnen, daß sich unser Jahrhundert in einer moralischen Krisis befindet? Die Gesetze gelten nichts, weil sie nur für die Verbrecher da sind; die Moral hält die äußere Ordnung unsres Zusammenlebens aufrecht, allein auch sie wird

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/25>, abgerufen am 29.04.2024.