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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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bekämpft. Es ist auffallend, das Gefühl, wie an der Moral gerüttelt wird, ist gewiß allgemein in unsern gegenwärtigen Zuständen verbreitet; woher aber der Widerspuch kömmt, welches die Farbe und das Ziel der oppositiven Meinung ist, das weiß man nicht, und wenn man es ahnt, so wagt man nicht, sich darüber Geständnisse zu machen. Man stellt die überlieferte Moral, die Umgangssitte, die Sitten der Liebe, der Ehe, der Familie, man stellt sogar die Theorie der Verbrechen in Frage und wagt doch niemals eine Schlußfolge zu ziehen. Es ist eine Unbehaglichkeit mit dem Alten vorhanden, die sich der Gemüther beschlichen hat; eine bloß polemische Stimmung, die bis jezt noch ohne alle andere Resultate, als einige literarische, gewesen ist, beherrscht sie. Wie soll man sich diese Erscheinung erklären? Jst sie das Vorzeichen einer großen Katastrophe, deren Ende wir noch nicht absehen können? Oder sollte sich nur die politische und materielle Unbehaglichkeit und daraus entspringende Neuerung nur so haben äußern können, daß zu gleicher Zeit konsensuell auch alle übrigen moralischen Lebensfunktionen von einer krankhaften Reizbarkeit und beinahe organischen Verstimmung ergriffen werden mußten?

Wenn ich zum größten Theile mich für die leztere Meinung erklären möchte, so will ich nicht verschweigen, daß hiebei noch ein anderer Umstand obwalten dürfte. Nur die friedlichen Zeiten des vorigen Jahrhunderts waren im Stande, den Menschen allmälig

bekämpft. Es ist auffallend, das Gefühl, wie an der Moral gerüttelt wird, ist gewiß allgemein in unsern gegenwärtigen Zuständen verbreitet; woher aber der Widerspuch kömmt, welches die Farbe und das Ziel der oppositiven Meinung ist, das weiß man nicht, und wenn man es ahnt, so wagt man nicht, sich darüber Geständnisse zu machen. Man stellt die überlieferte Moral, die Umgangssitte, die Sitten der Liebe, der Ehe, der Familie, man stellt sogar die Theorie der Verbrechen in Frage und wagt doch niemals eine Schlußfolge zu ziehen. Es ist eine Unbehaglichkeit mit dem Alten vorhanden, die sich der Gemüther beschlichen hat; eine bloß polemische Stimmung, die bis jezt noch ohne alle andere Resultate, als einige literarische, gewesen ist, beherrscht sie. Wie soll man sich diese Erscheinung erklären? Jst sie das Vorzeichen einer großen Katastrophe, deren Ende wir noch nicht absehen können? Oder sollte sich nur die politische und materielle Unbehaglichkeit und daraus entspringende Neuerung nur so haben äußern können, daß zu gleicher Zeit konsensuell auch alle übrigen moralischen Lebensfunktionen von einer krankhaften Reizbarkeit und beinahe organischen Verstimmung ergriffen werden mußten?

Wenn ich zum größten Theile mich für die leztere Meinung erklären möchte, so will ich nicht verschweigen, daß hiebei noch ein anderer Umstand obwalten dürfte. Nur die friedlichen Zeiten des vorigen Jahrhunderts waren im Stande, den Menschen allmälig

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[24/0026] bekämpft. Es ist auffallend, das Gefühl, wie an der Moral gerüttelt wird, ist gewiß allgemein in unsern gegenwärtigen Zuständen verbreitet; woher aber der Widerspuch kömmt, welches die Farbe und das Ziel der oppositiven Meinung ist, das weiß man nicht, und wenn man es ahnt, so wagt man nicht, sich darüber Geständnisse zu machen. Man stellt die überlieferte Moral, die Umgangssitte, die Sitten der Liebe, der Ehe, der Familie, man stellt sogar die Theorie der Verbrechen in Frage und wagt doch niemals eine Schlußfolge zu ziehen. Es ist eine Unbehaglichkeit mit dem Alten vorhanden, die sich der Gemüther beschlichen hat; eine bloß polemische Stimmung, die bis jezt noch ohne alle andere Resultate, als einige literarische, gewesen ist, beherrscht sie. Wie soll man sich diese Erscheinung erklären? Jst sie das Vorzeichen einer großen Katastrophe, deren Ende wir noch nicht absehen können? Oder sollte sich nur die politische und materielle Unbehaglichkeit und daraus entspringende Neuerung nur so haben äußern können, daß zu gleicher Zeit konsensuell auch alle übrigen moralischen Lebensfunktionen von einer krankhaften Reizbarkeit und beinahe organischen Verstimmung ergriffen werden mußten? Wenn ich zum größten Theile mich für die leztere Meinung erklären möchte, so will ich nicht verschweigen, daß hiebei noch ein anderer Umstand obwalten dürfte. Nur die friedlichen Zeiten des vorigen Jahrhunderts waren im Stande, den Menschen allmälig

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/26>, abgerufen am 29.04.2024.