Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.neue Erfindung und Anerkennung des Alten liegen sollte. Wie unter ähnlichen Umständen bei den klar vor Augen liegenden Ungewißheiten unsrer politischen Zustände, bei dem religiösen Jndifferentismus und bei den einreißenden, nur interimistischen Zugeständnissen, die man der Zeit nur noch gestatten konnte und wollte, die Zweifelsucht ein herrschender Grundzug der Gemüther wurde, so zerfiel auch die Literatur fast überall in bloße Kritik. Sie löste mehr auf, als sie zusammensezte, sie wollte keine vollendeten Kunstwerke mehr schaffen, ehe sie nicht den Geschmack, der sie beurtheilen dürfte, regenerirt hätte; ja selbst wirkliche positive Fähigkeiten, wie Lord Byron, wie Victor Hugo und viele höchst achtbare neuere französische und englische Dichter bauten ihre Frühlinge nur über die Lavatrümmer der Kritik. Sie wollten nicht bloß Kunstwerke schaffen, sondern sie zu gleicher Zeit zu Beispielen einer neuen literarischen Theorie dienen lassen. Oder wenn Lord Byron vielleicht am unabhängigsten von der Kritik sich erhalten hat, ist es nicht überall der zweifelnde und ironische Verstand, der seine Phantasiegebilde durchkreuzt und jenen unserm Zeitalter so eigenthümlichen Humor produzirte? So hat sich die neuere Literatur, während sie sich das Ansehen gab, nur Tendenzen zu begünstigen, zulezt in nichts anders verwandeln können, als in Personen, die mit dilettantischem Vergnügen so viel Wissens- oder Schönheitsstoff verarbeiten, als die neue Erfindung und Anerkennung des Alten liegen sollte. Wie unter ähnlichen Umständen bei den klar vor Augen liegenden Ungewißheiten unsrer politischen Zustände, bei dem religiösen Jndifferentismus und bei den einreißenden, nur interimistischen Zugeständnissen, die man der Zeit nur noch gestatten konnte und wollte, die Zweifelsucht ein herrschender Grundzug der Gemüther wurde, so zerfiel auch die Literatur fast überall in bloße Kritik. Sie löste mehr auf, als sie zusammensezte, sie wollte keine vollendeten Kunstwerke mehr schaffen, ehe sie nicht den Geschmack, der sie beurtheilen dürfte, regenerirt hätte; ja selbst wirkliche positive Fähigkeiten, wie Lord Byron, wie Victor Hugo und viele höchst achtbare neuere französische und englische Dichter bauten ihre Frühlinge nur über die Lavatrümmer der Kritik. Sie wollten nicht bloß Kunstwerke schaffen, sondern sie zu gleicher Zeit zu Beispielen einer neuen literarischen Theorie dienen lassen. Oder wenn Lord Byron vielleicht am unabhängigsten von der Kritik sich erhalten hat, ist es nicht überall der zweifelnde und ironische Verstand, der seine Phantasiegebilde durchkreuzt und jenen unserm Zeitalter so eigenthümlichen Humor produzirte? So hat sich die neuere Literatur, während sie sich das Ansehen gab, nur Tendenzen zu begünstigen, zulezt in nichts anders verwandeln können, als in Personen, die mit dilettantischem Vergnügen so viel Wissens- oder Schönheitsstoff verarbeiten, als die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0436" n="434"/> neue Erfindung und Anerkennung des Alten liegen sollte. Wie unter ähnlichen Umständen bei den klar vor Augen liegenden Ungewißheiten unsrer politischen Zustände, bei dem religiösen Jndifferentismus und bei den einreißenden, nur interimistischen Zugeständnissen, die man der Zeit nur noch gestatten konnte und wollte, die Zweifelsucht ein herrschender Grundzug der Gemüther wurde, so zerfiel auch die Literatur fast überall in bloße Kritik. Sie löste mehr auf, als sie zusammensezte, sie wollte keine vollendeten Kunstwerke mehr schaffen, ehe sie nicht den Geschmack, der sie beurtheilen dürfte, regenerirt hätte; ja selbst wirkliche positive Fähigkeiten, wie Lord <hi rendition="#g">Byron</hi>, wie <hi rendition="#g">Victor Hugo</hi> und viele höchst achtbare neuere französische und englische Dichter bauten ihre Frühlinge nur über die Lavatrümmer der Kritik. Sie wollten nicht bloß Kunstwerke schaffen, sondern sie zu gleicher Zeit zu Beispielen einer neuen literarischen Theorie dienen lassen. Oder wenn Lord <hi rendition="#g">Byron</hi> vielleicht am unabhängigsten von der Kritik sich erhalten hat, ist es nicht überall der zweifelnde und ironische Verstand, der seine Phantasiegebilde durchkreuzt und jenen unserm Zeitalter so eigenthümlichen Humor produzirte? So hat sich die neuere Literatur, während sie sich das Ansehen gab, nur Tendenzen zu begünstigen, zulezt in nichts anders verwandeln können, als in Personen, die mit dilettantischem Vergnügen so viel Wissens- oder Schönheitsstoff verarbeiten, als die </p> </div> </body> </text> </TEI> [434/0436]
neue Erfindung und Anerkennung des Alten liegen sollte. Wie unter ähnlichen Umständen bei den klar vor Augen liegenden Ungewißheiten unsrer politischen Zustände, bei dem religiösen Jndifferentismus und bei den einreißenden, nur interimistischen Zugeständnissen, die man der Zeit nur noch gestatten konnte und wollte, die Zweifelsucht ein herrschender Grundzug der Gemüther wurde, so zerfiel auch die Literatur fast überall in bloße Kritik. Sie löste mehr auf, als sie zusammensezte, sie wollte keine vollendeten Kunstwerke mehr schaffen, ehe sie nicht den Geschmack, der sie beurtheilen dürfte, regenerirt hätte; ja selbst wirkliche positive Fähigkeiten, wie Lord Byron, wie Victor Hugo und viele höchst achtbare neuere französische und englische Dichter bauten ihre Frühlinge nur über die Lavatrümmer der Kritik. Sie wollten nicht bloß Kunstwerke schaffen, sondern sie zu gleicher Zeit zu Beispielen einer neuen literarischen Theorie dienen lassen. Oder wenn Lord Byron vielleicht am unabhängigsten von der Kritik sich erhalten hat, ist es nicht überall der zweifelnde und ironische Verstand, der seine Phantasiegebilde durchkreuzt und jenen unserm Zeitalter so eigenthümlichen Humor produzirte? So hat sich die neuere Literatur, während sie sich das Ansehen gab, nur Tendenzen zu begünstigen, zulezt in nichts anders verwandeln können, als in Personen, die mit dilettantischem Vergnügen so viel Wissens- oder Schönheitsstoff verarbeiten, als die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/436 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/436>, abgerufen am 19.07.2024. |