Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Um nur von einem Bereich höherer menschlicher Thätigkeit nachzuweisen, wie sehr seine gegenwärtige Lage welk ist gegen frühere Blüthenperioden, so wollen wir auf die Literatur kommen. Sehen wir zuvörderst, was die Stellung derselben mit allem übrigen gemein hat, was das höhere und geistige Leben der Menschheit gegenwärtig umfaßt. Die Literatur ist in dieselbe Ohnmacht versunken, welche sich unsers ganzen geistigen Lebens, die Politik ausgenommen, bemächtigt hat. Wenn man von unsrer Zeit behaupten kann, daß sich in ihr Alles auf das Neue hinwendet und die leichtere Abmachung des Alten, welche leztere die fortwährenden Veränderungen der Unterrichtsmethoden hervorruft, so kann man wohl zunächst nicht läugnen, daß auch unsre gegenwärtige Literatur darnach strebt, Neues zu schaffen; allein im Allgemeinen hat sie sich eben dadurch geschadet, daß auch sie sich der leichtern Abmachung des Alten hingab. Jndem man die Literaturen der Vergangenheit nivellirte und aus ihnen bloß die Quintessenz des literarischen Charakters, das Antike und Romantische zog, so überredete man sich, daß in der Literatur die Tendenzen und allgemeinen Merkmale wichtiger wären, als die Jndividuen, das Genre wichtiger als die Gattung in der Poesie, das Endziel wichtiger als der Anfang. Man wollte sich in der Literatur einen neuen Begriff schaffen, das Moderne, ohne daß man sich darüber klar werden konnte, wie viel in dem Modernen Um nur von einem Bereich höherer menschlicher Thätigkeit nachzuweisen, wie sehr seine gegenwärtige Lage welk ist gegen frühere Blüthenperioden, so wollen wir auf die Literatur kommen. Sehen wir zuvörderst, was die Stellung derselben mit allem übrigen gemein hat, was das höhere und geistige Leben der Menschheit gegenwärtig umfaßt. Die Literatur ist in dieselbe Ohnmacht versunken, welche sich unsers ganzen geistigen Lebens, die Politik ausgenommen, bemächtigt hat. Wenn man von unsrer Zeit behaupten kann, daß sich in ihr Alles auf das Neue hinwendet und die leichtere Abmachung des Alten, welche leztere die fortwährenden Veränderungen der Unterrichtsmethoden hervorruft, so kann man wohl zunächst nicht läugnen, daß auch unsre gegenwärtige Literatur darnach strebt, Neues zu schaffen; allein im Allgemeinen hat sie sich eben dadurch geschadet, daß auch sie sich der leichtern Abmachung des Alten hingab. Jndem man die Literaturen der Vergangenheit nivellirte und aus ihnen bloß die Quintessenz des literarischen Charakters, das Antike und Romantische zog, so überredete man sich, daß in der Literatur die Tendenzen und allgemeinen Merkmale wichtiger wären, als die Jndividuen, das Genre wichtiger als die Gattung in der Poesie, das Endziel wichtiger als der Anfang. Man wollte sich in der Literatur einen neuen Begriff schaffen, das Moderne, ohne daß man sich darüber klar werden konnte, wie viel in dem Modernen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0435" n="433"/> <p> Um nur von einem Bereich höherer menschlicher Thätigkeit nachzuweisen, wie sehr seine gegenwärtige Lage welk ist gegen frühere Blüthenperioden, so wollen wir auf die Literatur kommen. Sehen wir zuvörderst, was die Stellung derselben mit allem übrigen gemein hat, was das höhere und geistige Leben der Menschheit gegenwärtig umfaßt. Die Literatur ist in dieselbe Ohnmacht versunken, welche sich unsers ganzen geistigen Lebens, die Politik ausgenommen, bemächtigt hat. Wenn man von unsrer Zeit behaupten kann, daß sich in ihr Alles auf das Neue hinwendet und die leichtere <hi rendition="#g">Abmachung des Alten</hi>, welche leztere die fortwährenden Veränderungen der Unterrichtsmethoden hervorruft, so kann man wohl zunächst nicht läugnen, daß auch unsre gegenwärtige Literatur darnach strebt, Neues zu schaffen; allein im Allgemeinen hat sie sich eben dadurch geschadet, daß auch sie sich der leichtern <hi rendition="#g">Abmachung des Alten</hi> hingab. Jndem man die Literaturen der Vergangenheit nivellirte und aus ihnen bloß die Quintessenz des literarischen Charakters, das Antike und Romantische zog, so überredete man sich, daß in der Literatur die Tendenzen und allgemeinen Merkmale wichtiger wären, als die Jndividuen, das Genre wichtiger als die Gattung in der Poesie, das Endziel wichtiger als der Anfang. Man wollte sich in der Literatur einen neuen Begriff schaffen, das Moderne, ohne daß man sich darüber klar werden konnte, wie viel in dem Modernen </p> </div> </body> </text> </TEI> [433/0435]
Um nur von einem Bereich höherer menschlicher Thätigkeit nachzuweisen, wie sehr seine gegenwärtige Lage welk ist gegen frühere Blüthenperioden, so wollen wir auf die Literatur kommen. Sehen wir zuvörderst, was die Stellung derselben mit allem übrigen gemein hat, was das höhere und geistige Leben der Menschheit gegenwärtig umfaßt. Die Literatur ist in dieselbe Ohnmacht versunken, welche sich unsers ganzen geistigen Lebens, die Politik ausgenommen, bemächtigt hat. Wenn man von unsrer Zeit behaupten kann, daß sich in ihr Alles auf das Neue hinwendet und die leichtere Abmachung des Alten, welche leztere die fortwährenden Veränderungen der Unterrichtsmethoden hervorruft, so kann man wohl zunächst nicht läugnen, daß auch unsre gegenwärtige Literatur darnach strebt, Neues zu schaffen; allein im Allgemeinen hat sie sich eben dadurch geschadet, daß auch sie sich der leichtern Abmachung des Alten hingab. Jndem man die Literaturen der Vergangenheit nivellirte und aus ihnen bloß die Quintessenz des literarischen Charakters, das Antike und Romantische zog, so überredete man sich, daß in der Literatur die Tendenzen und allgemeinen Merkmale wichtiger wären, als die Jndividuen, das Genre wichtiger als die Gattung in der Poesie, das Endziel wichtiger als der Anfang. Man wollte sich in der Literatur einen neuen Begriff schaffen, das Moderne, ohne daß man sich darüber klar werden konnte, wie viel in dem Modernen
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/435>, abgerufen am 19.07.2024. |