Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

Bild:
<< vorherige Seite

zusammenjagen, wenn wir nicht arbeiten und veranstaltet kein dauerndes Unternehmen, wo wir Arbeit fordern könnten. Sie schreibt uns unerreichbare Tugenden vor, da sie uns ohne die Mittel läßt, zu ihnen zu gelangen. Wenn zuweilen der Winter gar zu streng ist, wenn der Arme weder Brod noch Kleid hat, verschafft uns die Regierung Arbeit; aber die Arbeit hört mit dem Winter auf; der Hunger aber überdauert alle Jahreszeiten. Zuweilen erhalten wir auch Geschenke, aber alles dieses ist zufällig und nicht hinreichend. Unsere Bedürfnisse bleiben, unsre Hilfe ist vorübergehend; wir fallen großentheils durch unsere Schuld; aber ihr tragt auch einen Theil davon. Strafet uns, aber helft uns früher; je mehr ihr uns beistehen werdet, um so weniger werdet ihr uns strafen müssen. Die jetzige Gesellschaft hat auf diese Weise den Sträflingen gegenüber nicht die moralische Position des Christenthums. Sie thut weniger für sie, und sonderbar genug, mehr gegen sie; sie ist ihnen zu gleicher Zeit ein weit nachläßigerer Vater und weit strengerer Richter; sie erleichtert ihnen nicht ihre guten Handlungen und straft sie weit härter für ihre schlechten; sie legt ihnen mehr Pflichten auf und bewilligt ihnen weniger Rechte. - Demnach hätten die Philanthropen alle christlichen Jnstitutionen, nicht nur einen Theil derselben, kopiren sollen. Beide, das Christenthum und die Philanthropen wollten einen Fluß austrocknen; die Philanthropen versuchten es mit Eimern,

zusammenjagen, wenn wir nicht arbeiten und veranstaltet kein dauerndes Unternehmen, wo wir Arbeit fordern könnten. Sie schreibt uns unerreichbare Tugenden vor, da sie uns ohne die Mittel läßt, zu ihnen zu gelangen. Wenn zuweilen der Winter gar zu streng ist, wenn der Arme weder Brod noch Kleid hat, verschafft uns die Regierung Arbeit; aber die Arbeit hört mit dem Winter auf; der Hunger aber überdauert alle Jahreszeiten. Zuweilen erhalten wir auch Geschenke, aber alles dieses ist zufällig und nicht hinreichend. Unsere Bedürfnisse bleiben, unsre Hilfe ist vorübergehend; wir fallen großentheils durch unsere Schuld; aber ihr tragt auch einen Theil davon. Strafet uns, aber helft uns früher; je mehr ihr uns beistehen werdet, um so weniger werdet ihr uns strafen müssen. Die jetzige Gesellschaft hat auf diese Weise den Sträflingen gegenüber nicht die moralische Position des Christenthums. Sie thut weniger für sie, und sonderbar genug, mehr gegen sie; sie ist ihnen zu gleicher Zeit ein weit nachläßigerer Vater und weit strengerer Richter; sie erleichtert ihnen nicht ihre guten Handlungen und straft sie weit härter für ihre schlechten; sie legt ihnen mehr Pflichten auf und bewilligt ihnen weniger Rechte. – Demnach hätten die Philanthropen alle christlichen Jnstitutionen, nicht nur einen Theil derselben, kopiren sollen. Beide, das Christenthum und die Philanthropen wollten einen Fluß austrocknen; die Philanthropen versuchten es mit Eimern,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0072" n="70"/>
zusammenjagen, wenn wir nicht arbeiten und veranstaltet kein dauerndes Unternehmen, wo wir Arbeit fordern könnten. Sie schreibt uns unerreichbare Tugenden vor, da sie uns ohne die Mittel läßt, zu ihnen zu gelangen. Wenn zuweilen der Winter gar zu streng ist, wenn der Arme weder Brod noch Kleid hat, verschafft uns die Regierung Arbeit; aber die Arbeit hört mit dem Winter auf; der Hunger aber überdauert alle Jahreszeiten. Zuweilen erhalten wir auch Geschenke, aber alles dieses ist zufällig und nicht hinreichend. Unsere Bedürfnisse bleiben, unsre Hilfe ist vorübergehend; wir fallen großentheils durch unsere Schuld; aber ihr tragt auch einen Theil davon. Strafet uns, aber helft uns früher; je mehr ihr uns beistehen werdet, um so weniger werdet ihr uns strafen müssen. Die jetzige Gesellschaft hat auf diese Weise den Sträflingen gegenüber nicht die moralische Position des Christenthums. Sie thut weniger für sie, und sonderbar genug, mehr gegen sie; sie ist ihnen zu gleicher Zeit ein weit nachläßigerer Vater und weit strengerer Richter; sie erleichtert ihnen nicht ihre guten Handlungen und straft sie weit härter für ihre schlechten; sie legt ihnen mehr Pflichten auf und bewilligt ihnen weniger Rechte. &#x2013; Demnach hätten die Philanthropen alle christlichen Jnstitutionen, nicht nur einen Theil derselben, kopiren sollen. Beide, das Christenthum und die Philanthropen wollten einen Fluß austrocknen; die Philanthropen versuchten es mit Eimern,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0072] zusammenjagen, wenn wir nicht arbeiten und veranstaltet kein dauerndes Unternehmen, wo wir Arbeit fordern könnten. Sie schreibt uns unerreichbare Tugenden vor, da sie uns ohne die Mittel läßt, zu ihnen zu gelangen. Wenn zuweilen der Winter gar zu streng ist, wenn der Arme weder Brod noch Kleid hat, verschafft uns die Regierung Arbeit; aber die Arbeit hört mit dem Winter auf; der Hunger aber überdauert alle Jahreszeiten. Zuweilen erhalten wir auch Geschenke, aber alles dieses ist zufällig und nicht hinreichend. Unsere Bedürfnisse bleiben, unsre Hilfe ist vorübergehend; wir fallen großentheils durch unsere Schuld; aber ihr tragt auch einen Theil davon. Strafet uns, aber helft uns früher; je mehr ihr uns beistehen werdet, um so weniger werdet ihr uns strafen müssen. Die jetzige Gesellschaft hat auf diese Weise den Sträflingen gegenüber nicht die moralische Position des Christenthums. Sie thut weniger für sie, und sonderbar genug, mehr gegen sie; sie ist ihnen zu gleicher Zeit ein weit nachläßigerer Vater und weit strengerer Richter; sie erleichtert ihnen nicht ihre guten Handlungen und straft sie weit härter für ihre schlechten; sie legt ihnen mehr Pflichten auf und bewilligt ihnen weniger Rechte. – Demnach hätten die Philanthropen alle christlichen Jnstitutionen, nicht nur einen Theil derselben, kopiren sollen. Beide, das Christenthum und die Philanthropen wollten einen Fluß austrocknen; die Philanthropen versuchten es mit Eimern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-09-13T12:39:16Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/72
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/72>, abgerufen am 21.11.2024.