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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Methodik der Morphologie der Organismen.
und diese durch präcise Unterschiede von einander möglichst scharf zu un-
terscheiden, verlor man gänzlich den Blick für die grosse und allgemeine
Uebereinstimmung, welche alle verwandten Species auf das Innigste ver-
bindet. Man wandte bei Vergleichung derselben seine ganze Aufmerksam-
keit auf die Unterscheidung und Hervorhebung der unbedeutenden äusser-
lichen Formunterschiede, welche dieser oder jener Theil des thierischen
und pflanzlichen Körpers darbot, und man vergass dabei gänzlich die völlige
oder doch grosse Uebereinstimmung, welche in allen übrigen wesentlichen
Theilen, und insbesonders fast in allen einzelnen Verhältnissen des innern
Baues, die verwandten Species zeigen. Ueber einem einzigen unterscheiden-
den Charakter zweier Formen übersah man völlig die hunderttausend
Charaktere, welche beiden gemein sind, und um beide als Species unter-
scheiden zu können, hob man den ersteren ganz allein hervor, während man
von den übrigen völlig schwieg.

Im weiteren Gange der sich entwickelnden Systematik trat nun bald
allgemein diese kleinliche Analyse so sehr in den Vordergrund, dass die
Unterscheidung der einzelnen Formen, welche ursprünglich nur Mittel zur
systematischen Anordnung und Benennung gewesen war, nunmehr selbst
Zweck wurde, und dass die Synthese, welche stets mit der Analyse Hand
in Hand gehen sollte, nur ganz zuletzt in Anwendung kam, wenn aus den
einzelnen isolirten Bausteinen der Species das System aufgebaut werden sollte,
in welchem dieselben sich scharf und glatt von einander absetzen mussten.
Da nun bei diesem Geschäfte den Systematikern nichts hinderlicher war,
als die zahlreichen Mittelformen und Uebergangsstufen, welche die ver-
wandten Arten verbinden, so wurden diese fast allgemein gänzlich vernach-
lässigt, und statt diesen wichtigsten Wegweisern der natürlichen Verwandt-
schaft eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wandte man sich mei-
stens von ihnen mit Widerwillen ab. Nur durch dieses verkehrte Verfahren,
durch diese gänzliche Verkennung des natürlichen Zusammenhanges der
Arten, und durch diese gegenseitige Zuschärfung der analytischen Unter-
suchungsmethode und der Species-Dogmatik, war es möglich, das Ansehen
der letzteren so allgemein und so lange zu erhalten, und sich der Erkennt-
niss von der genealogischen Verwandtschaft der Species zu verschliessen,
auf welche alle allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur mit
zwingender Gewalt hindeuten.

Hieraus ergiebt sich nun von selbst, dass wir, um einen neuen Auf-
schwung der Morphologie herbeizuführen, vor Allem die vergessene und
verlassene Synthese wieder in ihre alten Rechte einzusetzen haben. Viele
Zweifel gegen die Descendenz-Theorie, viele eingerostete Vorurtheile gegen
die Veränderlichkeit der Species werden von selbst fortfallen, sobald man
die bereits bekannten Thatsachen-Reihen der Biologie, statt wie bisher
sondernd vom analytischen, nun auch einmal verknüpfend vom synthetischen
Standpunkte aus betrachtet. In der That genügt in vielen Fällen die ein-
fache Zusammenstellung und Vergleichung einer Reihe von einzelnen That-
sachen, um zu einem ganz entgegengesetzten allgemeinen Schlusse zu ge-
langen, als dieselben vorher einzeln und für sich betrachtet, ziehen liessen.
Nur durch Synthese ist es möglich, zu den wichtigsten allge-

Methodik der Morphologie der Organismen.
und diese durch präcise Unterschiede von einander möglichst scharf zu un-
terscheiden, verlor man gänzlich den Blick für die grosse und allgemeine
Uebereinstimmung, welche alle verwandten Species auf das Innigste ver-
bindet. Man wandte bei Vergleichung derselben seine ganze Aufmerksam-
keit auf die Unterscheidung und Hervorhebung der unbedeutenden äusser-
lichen Formunterschiede, welche dieser oder jener Theil des thierischen
und pflanzlichen Körpers darbot, und man vergass dabei gänzlich die völlige
oder doch grosse Uebereinstimmung, welche in allen übrigen wesentlichen
Theilen, und insbesonders fast in allen einzelnen Verhältnissen des innern
Baues, die verwandten Species zeigen. Ueber einem einzigen unterscheiden-
den Charakter zweier Formen übersah man völlig die hunderttausend
Charaktere, welche beiden gemein sind, und um beide als Species unter-
scheiden zu können, hob man den ersteren ganz allein hervor, während man
von den übrigen völlig schwieg.

Im weiteren Gange der sich entwickelnden Systematik trat nun bald
allgemein diese kleinliche Analyse so sehr in den Vordergrund, dass die
Unterscheidung der einzelnen Formen, welche ursprünglich nur Mittel zur
systematischen Anordnung und Benennung gewesen war, nunmehr selbst
Zweck wurde, und dass die Synthese, welche stets mit der Analyse Hand
in Hand gehen sollte, nur ganz zuletzt in Anwendung kam, wenn aus den
einzelnen isolirten Bausteinen der Species das System aufgebaut werden sollte,
in welchem dieselben sich scharf und glatt von einander absetzen mussten.
Da nun bei diesem Geschäfte den Systematikern nichts hinderlicher war,
als die zahlreichen Mittelformen und Uebergangsstufen, welche die ver-
wandten Arten verbinden, so wurden diese fast allgemein gänzlich vernach-
lässigt, und statt diesen wichtigsten Wegweisern der natürlichen Verwandt-
schaft eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wandte man sich mei-
stens von ihnen mit Widerwillen ab. Nur durch dieses verkehrte Verfahren,
durch diese gänzliche Verkennung des natürlichen Zusammenhanges der
Arten, und durch diese gegenseitige Zuschärfung der analytischen Unter-
suchungsmethode und der Species-Dogmatik, war es möglich, das Ansehen
der letzteren so allgemein und so lange zu erhalten, und sich der Erkennt-
niss von der genealogischen Verwandtschaft der Species zu verschliessen,
auf welche alle allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur mit
zwingender Gewalt hindeuten.

Hieraus ergiebt sich nun von selbst, dass wir, um einen neuen Auf-
schwung der Morphologie herbeizuführen, vor Allem die vergessene und
verlassene Synthese wieder in ihre alten Rechte einzusetzen haben. Viele
Zweifel gegen die Descendenz-Theorie, viele eingerostete Vorurtheile gegen
die Veränderlichkeit der Species werden von selbst fortfallen, sobald man
die bereits bekannten Thatsachen-Reihen der Biologie, statt wie bisher
sondernd vom analytischen, nun auch einmal verknüpfend vom synthetischen
Standpunkte aus betrachtet. In der That genügt in vielen Fällen die ein-
fache Zusammenstellung und Vergleichung einer Reihe von einzelnen That-
sachen, um zu einem ganz entgegengesetzten allgemeinen Schlusse zu ge-
langen, als dieselben vorher einzeln und für sich betrachtet, ziehen liessen.
Nur durch Synthese ist es möglich, zu den wichtigsten allge-

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[78/0117] Methodik der Morphologie der Organismen. und diese durch präcise Unterschiede von einander möglichst scharf zu un- terscheiden, verlor man gänzlich den Blick für die grosse und allgemeine Uebereinstimmung, welche alle verwandten Species auf das Innigste ver- bindet. Man wandte bei Vergleichung derselben seine ganze Aufmerksam- keit auf die Unterscheidung und Hervorhebung der unbedeutenden äusser- lichen Formunterschiede, welche dieser oder jener Theil des thierischen und pflanzlichen Körpers darbot, und man vergass dabei gänzlich die völlige oder doch grosse Uebereinstimmung, welche in allen übrigen wesentlichen Theilen, und insbesonders fast in allen einzelnen Verhältnissen des innern Baues, die verwandten Species zeigen. Ueber einem einzigen unterscheiden- den Charakter zweier Formen übersah man völlig die hunderttausend Charaktere, welche beiden gemein sind, und um beide als Species unter- scheiden zu können, hob man den ersteren ganz allein hervor, während man von den übrigen völlig schwieg. Im weiteren Gange der sich entwickelnden Systematik trat nun bald allgemein diese kleinliche Analyse so sehr in den Vordergrund, dass die Unterscheidung der einzelnen Formen, welche ursprünglich nur Mittel zur systematischen Anordnung und Benennung gewesen war, nunmehr selbst Zweck wurde, und dass die Synthese, welche stets mit der Analyse Hand in Hand gehen sollte, nur ganz zuletzt in Anwendung kam, wenn aus den einzelnen isolirten Bausteinen der Species das System aufgebaut werden sollte, in welchem dieselben sich scharf und glatt von einander absetzen mussten. Da nun bei diesem Geschäfte den Systematikern nichts hinderlicher war, als die zahlreichen Mittelformen und Uebergangsstufen, welche die ver- wandten Arten verbinden, so wurden diese fast allgemein gänzlich vernach- lässigt, und statt diesen wichtigsten Wegweisern der natürlichen Verwandt- schaft eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wandte man sich mei- stens von ihnen mit Widerwillen ab. Nur durch dieses verkehrte Verfahren, durch diese gänzliche Verkennung des natürlichen Zusammenhanges der Arten, und durch diese gegenseitige Zuschärfung der analytischen Unter- suchungsmethode und der Species-Dogmatik, war es möglich, das Ansehen der letzteren so allgemein und so lange zu erhalten, und sich der Erkennt- niss von der genealogischen Verwandtschaft der Species zu verschliessen, auf welche alle allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur mit zwingender Gewalt hindeuten. Hieraus ergiebt sich nun von selbst, dass wir, um einen neuen Auf- schwung der Morphologie herbeizuführen, vor Allem die vergessene und verlassene Synthese wieder in ihre alten Rechte einzusetzen haben. Viele Zweifel gegen die Descendenz-Theorie, viele eingerostete Vorurtheile gegen die Veränderlichkeit der Species werden von selbst fortfallen, sobald man die bereits bekannten Thatsachen-Reihen der Biologie, statt wie bisher sondernd vom analytischen, nun auch einmal verknüpfend vom synthetischen Standpunkte aus betrachtet. In der That genügt in vielen Fällen die ein- fache Zusammenstellung und Vergleichung einer Reihe von einzelnen That- sachen, um zu einem ganz entgegengesetzten allgemeinen Schlusse zu ge- langen, als dieselben vorher einzeln und für sich betrachtet, ziehen liessen. Nur durch Synthese ist es möglich, zu den wichtigsten allge-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/117>, abgerufen am 18.05.2024.