meinen Naturgesetzen zu gelangen, zu denen die ausgedehnteste Analyse niemals hinführt.
Wenn man bedenkt, wie höchst einseitig von der gesammten Biologie, insbesondere in den letzten 30 Jahren, die empirische Analyse betrieben worden ist, wie man stets nur bedacht war, das Ganze in seine Theile zu zerlegen, die isolirten Theile zu untersuchen, und sich nicht weiter um den Zusammenhang derselben zu kümmern, so wird man über den Widerstand, den die Descendenz-Theorie bei den meisten Biologen noch heute findet, nicht erstaunt sein. Denn es ist ohne Weiteres klar, dass diese Theorie, wie alle ähnlichen grossen und umfassenden Theorieen, wesentlich auf der ausgedehntesten philosophischen Synthese beruht, und dass nur durch die den- kende Verknüpfung der zahllosen, von der beobachtenden Analyse gewon- nenen Einzelheiten die allgemeinen Gesetze gewonnen werden können, zu de- nen uns jene Theorie hinführt. Aus diesen Gründen erwarten wir zunächst von einer durchgreifenden und allgemeinen Synthese auf dem gesammten Ge- biete der organischen Morphologie den grössten Fortschritt, und sind fest überzeugt, dass durch diese allein schon unsere ganze Wissenschaft ein verjüngtes Ansehen gewinnen wird. Vergessen wir dabei aber niemals, dass empirische Analyse und philosophische Synthese sich gegenseitig be- dingen, ergänzen und durchdringen müssen; denn "nur Beide zusammen, wie Ein- und Aus-Athmen, machen das Leben der Wissenschaft."
III. Induction und Deduction.
"Die allein richtige Methode in den Naturwissenschaften ist die inductive. Ihre wesentliche Eigenthümlichkeit, worin eben die Sicher- heit der durch sie gewonnenen Resultate begründet ist, besteht darin, dass man mit Verwerfung jeder Hypothese ohne alle Ausnahme (z. B. der Hypothese einer besonderen Lebenskraft) von dem unmittelbar Gewissen der Wahrnehmung ausgeht, durch dieselbe sich zur Erfahrung erhebt, indem man die einzelne Wahrnehmung mit dem anderweit schon Festgestellten in Verbindung setzt, aus Vergleichung verwandter Erfahrungen durch Induction bestimmt, ob sie unter einem Gesetze, und unter welchem sie stehen und so fort, indem man mit den so gefundenen Gesetzen ebenso verfährt, rückwärts fortschreitet, bis man bei sich selbst genügenden, mathematischen Axiomen ange- kommen ist." Schleiden (Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik §. 3. Methodik). 1)
1) "Von den Thatsachen werden wir weiter geführt zur Theorie hauptsäch- lich durch Induction, Hypothese und Analogie. Alle drei sind blosse Wahrscheinlichkeitsschlüsse und können also für sich nie logische Ge- wissheit geben. Wenn man sie daher richtig gebrauchen will, so muss man sehr genau über das Verhältniss derselben zum Ganzen unserer Erkenntnissthätigkeit orientirt sein; denn so wie sie richtig gebraucht die einzigen Förderungsmittel
III. Induction und Deduction.
meinen Naturgesetzen zu gelangen, zu denen die ausgedehnteste Analyse niemals hinführt.
Wenn man bedenkt, wie höchst einseitig von der gesammten Biologie, insbesondere in den letzten 30 Jahren, die empirische Analyse betrieben worden ist, wie man stets nur bedacht war, das Ganze in seine Theile zu zerlegen, die isolirten Theile zu untersuchen, und sich nicht weiter um den Zusammenhang derselben zu kümmern, so wird man über den Widerstand, den die Descendenz-Theorie bei den meisten Biologen noch heute findet, nicht erstaunt sein. Denn es ist ohne Weiteres klar, dass diese Theorie, wie alle ähnlichen grossen und umfassenden Theorieen, wesentlich auf der ausgedehntesten philosophischen Synthese beruht, und dass nur durch die den- kende Verknüpfung der zahllosen, von der beobachtenden Analyse gewon- nenen Einzelheiten die allgemeinen Gesetze gewonnen werden können, zu de- nen uns jene Theorie hinführt. Aus diesen Gründen erwarten wir zunächst von einer durchgreifenden und allgemeinen Synthese auf dem gesammten Ge- biete der organischen Morphologie den grössten Fortschritt, und sind fest überzeugt, dass durch diese allein schon unsere ganze Wissenschaft ein verjüngtes Ansehen gewinnen wird. Vergessen wir dabei aber niemals, dass empirische Analyse und philosophische Synthese sich gegenseitig be- dingen, ergänzen und durchdringen müssen; denn „nur Beide zusammen, wie Ein- und Aus-Athmen, machen das Leben der Wissenschaft.“
III. Induction und Deduction.
„Die allein richtige Methode in den Naturwissenschaften ist die inductive. Ihre wesentliche Eigenthümlichkeit, worin eben die Sicher- heit der durch sie gewonnenen Resultate begründet ist, besteht darin, dass man mit Verwerfung jeder Hypothese ohne alle Ausnahme (z. B. der Hypothese einer besonderen Lebenskraft) von dem unmittelbar Gewissen der Wahrnehmung ausgeht, durch dieselbe sich zur Erfahrung erhebt, indem man die einzelne Wahrnehmung mit dem anderweit schon Festgestellten in Verbindung setzt, aus Vergleichung verwandter Erfahrungen durch Induction bestimmt, ob sie unter einem Gesetze, und unter welchem sie stehen und so fort, indem man mit den so gefundenen Gesetzen ebenso verfährt, rückwärts fortschreitet, bis man bei sich selbst genügenden, mathematischen Axiomen ange- kommen ist.“ Schleiden (Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik §. 3. Methodik). 1)
1) „Von den Thatsachen werden wir weiter geführt zur Theorie hauptsäch- lich durch Induction, Hypothese und Analogie. Alle drei sind blosse Wahrscheinlichkeitsschlüsse und können also für sich nie logische Ge- wissheit geben. Wenn man sie daher richtig gebrauchen will, so muss man sehr genau über das Verhältniss derselben zum Ganzen unserer Erkenntnissthätigkeit orientírt sein; denn so wie sie richtig gebraucht die einzigen Förderungsmittel
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III. Induction und Deduction.
meinen Naturgesetzen zu gelangen, zu denen die ausgedehnteste
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Wenn man bedenkt, wie höchst einseitig von der gesammten Biologie,
insbesondere in den letzten 30 Jahren, die empirische Analyse betrieben
worden ist, wie man stets nur bedacht war, das Ganze in seine Theile zu
zerlegen, die isolirten Theile zu untersuchen, und sich nicht weiter um den
Zusammenhang derselben zu kümmern, so wird man über den Widerstand,
den die Descendenz-Theorie bei den meisten Biologen noch heute findet,
nicht erstaunt sein. Denn es ist ohne Weiteres klar, dass diese Theorie,
wie alle ähnlichen grossen und umfassenden Theorieen, wesentlich auf der
ausgedehntesten philosophischen Synthese beruht, und dass nur durch die den-
kende Verknüpfung der zahllosen, von der beobachtenden Analyse gewon-
nenen Einzelheiten die allgemeinen Gesetze gewonnen werden können, zu de-
nen uns jene Theorie hinführt. Aus diesen Gründen erwarten wir zunächst von
einer durchgreifenden und allgemeinen Synthese auf dem gesammten Ge-
biete der organischen Morphologie den grössten Fortschritt, und sind fest
überzeugt, dass durch diese allein schon unsere ganze Wissenschaft ein
verjüngtes Ansehen gewinnen wird. Vergessen wir dabei aber niemals,
dass empirische Analyse und philosophische Synthese sich gegenseitig be-
dingen, ergänzen und durchdringen müssen; denn „nur Beide zusammen,
wie Ein- und Aus-Athmen, machen das Leben der Wissenschaft.“
III. Induction und Deduction.
„Die allein richtige Methode in den Naturwissenschaften ist die
inductive. Ihre wesentliche Eigenthümlichkeit, worin eben die Sicher-
heit der durch sie gewonnenen Resultate begründet ist, besteht darin,
dass man mit Verwerfung jeder Hypothese ohne alle Ausnahme (z. B.
der Hypothese einer besonderen Lebenskraft) von dem unmittelbar
Gewissen der Wahrnehmung ausgeht, durch dieselbe sich zur
Erfahrung erhebt, indem man die einzelne Wahrnehmung mit dem
anderweit schon Festgestellten in Verbindung setzt, aus Vergleichung
verwandter Erfahrungen durch Induction bestimmt, ob sie unter einem
Gesetze, und unter welchem sie stehen und so fort, indem man mit
den so gefundenen Gesetzen ebenso verfährt, rückwärts fortschreitet,
bis man bei sich selbst genügenden, mathematischen Axiomen ange-
kommen ist.“ Schleiden (Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik
§. 3. Methodik). 1)
1) „Von den Thatsachen werden wir weiter geführt zur Theorie hauptsäch-
lich durch Induction, Hypothese und Analogie. Alle drei sind blosse
Wahrscheinlichkeitsschlüsse und können also für sich nie logische Ge-
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/118>, abgerufen am 21.11.2024.
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