Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.Methodik der Morphologie der Organismen. Dass die inductive und deductive Geistesoperation bei den uns nächst- Diese einfachen Verhältnisse der Induction und Deduction, welche ge- nen pflegt, ist nur ein trauriger Deckmantel für unsere bodenlose Unkenntniss.
Wenn man freilich bedenkt, wie gänzlich verkehrt noch unser gesammter Jugend- unterricht ist, wie wir von den Thieren, mit denen wir leben, und die unsere nächsten Verwandten sind, fast Nichts lernen, wie unsere sogenannten "gebilde- ten" Gesellschaftsklassen sich in der gröbsten Unkenntniss der Natur, die sie umgiebt, in der vollkommensten Unklarheit über ihre Beziehungen zu derselben befinden, so kann man sich nicht wundern, wenn gerade über diesen wichtigsten Punkt, über die qualitative Uebereinstimmung (und die nur quantitative Diffe- renz) der menschlichen und thierischen Psyche die verkehrtesten Vorstellungen herrschen. Methodik der Morphologie der Organismen. Dass die inductive und deductive Geistesoperation bei den uns nächst- Diese einfachen Verhältnisse der Induction und Deduction, welche ge- nen pflegt, ist nur ein trauriger Deckmantel für unsere bodenlose Unkenntniss.
Wenn man freilich bedenkt, wie gänzlich verkehrt noch unser gesammter Jugend- unterricht ist, wie wir von den Thieren, mit denen wir leben, und die unsere nächsten Verwandten sind, fast Nichts lernen, wie unsere sogenannten „gebilde- ten“ Gesellschaftsklassen sich in der gröbsten Unkenntniss der Natur, die sie umgiebt, in der vollkommensten Unklarheit über ihre Beziehungen zu derselben befinden, so kann man sich nicht wundern, wenn gerade über diesen wichtigsten Punkt, über die qualitative Uebereinstimmung (und die nur quantitative Diffe- renz) der menschlichen und thierischen Psyche die verkehrtesten Vorstellungen herrschen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0125" n="86"/> <fw place="top" type="header">Methodik der Morphologie der Organismen.</fw><lb/> <p>Dass die inductive und deductive Geistesoperation bei den uns nächst-<lb/> verwandten Wirbelthieren überall nach denselben Gesetzen und in derselben<lb/> Weise, wie bei uns selbst, zu Stande kommt und angewendet wird, und<lb/> dass hier nur quantitative, keine qualitativen Differenzen sich finden, lehrt<lb/> jede nur einigermaassen unbefangene und sorgfältige Beobachtung, z. B.<lb/> schon bei den uns am meisten umgebenden Hausthieren. Auch hier ge-<lb/> hören inductive und deductive Erkenntnisse zu den allgemeinsten und wich-<lb/> tigsten psychischen Processen. Wenn z. B. Jagdhunde, wie bekannt, in<lb/> die tödtlichste Angst gerathen, sobald der Jäger das Schiessgewehr auf<lb/> sie anlegt, so ist diese Erregung die Folge eines vollständigen inductiven<lb/> und deductiven Denkprocesses. Durch zahlreiche einzelne Erfahrungen<lb/> haben sie die tödtliche Wirkung des Schiessgewehrs kennen gelernt. Sie<lb/> schliessen daraus, dass diese Wirkung stets eintritt, sobald das Gewehr<lb/> auf ein lebendes Wesen gerichtet wird. Aus diesem als allgemein erkann-<lb/> ten Gesetze folgern sie, dass in diesem speciellen Falle dieselbe Wirkung<lb/> eintreten werde, und wenn der Jäger nun wirklich auf sie schösse, so hät-<lb/> ten sie den vollständigen Beweis von der Richtigkeit ihres deductiven<lb/> Schlusses erhalten. Auf dieselben psychischen Operationen gründet sich<lb/> auch die gesammte Erziehung der Hausthiere, wie der Menschenkinder,<lb/> mittelst der gebräuchlichsten und allgemeinsten Erziehungsmittel, der Schläge.<lb/> Ein Pferd z. B. macht in zahlreichen einzelnen Fällen die Erfahrung, dass<lb/> mit einem bestimmten Zurufe des Kutschers Schläge verbunden sind, die<lb/> aufhören, so bald es sich in Trab setzt. Es folgert daraus durch In-<lb/> duction das Gesetz (die Erziehungs-Maxime), dass diese Schläge constant<lb/> und allgemein mit dem Zurufe verbunden sind, und setzt sich, um jene zu<lb/> vermeiden, späterhin sofort von selbst in Trab, sobald der Zuruf ertönt.<lb/> Das Pferd schliesst hier in jedem einzelnen Falle durch Deduction zurück,<lb/> dass auf den Zuruf die Schläge erfolgen werden, und wenn sie wirklich<lb/> erfolgen, so war die Verification seiner Deduction geliefert.</p><lb/> <p>Diese einfachen Verhältnisse der Induction und Deduction, welche ge-<lb/> wissermassen eine in sich selbst zurücklaufende Kette von Ideen-Associa-<lb/> tionen herstellen (indem von vielen Einzelnen auf das Allgemeine geschlos-<lb/> sen und von diesem auf ein anderes Einzelnes zurück geschlossen wird),<lb/> sind ganz dieselben, welche zur Erkenntniss der complicirtesten Ver-<lb/> hältnisse und zur Entdeckung der wichtigsten Gesetze in der Naturwis-<lb/> senschaft geführt haben. Vor Allen in den am meisten „exacten“ Wissen-<lb/><note xml:id="seg2pn_6_2" prev="#seg2pn_6_1" place="foot" n="1)">nen pflegt, ist nur ein trauriger Deckmantel für unsere bodenlose Unkenntniss.<lb/> Wenn man freilich bedenkt, wie gänzlich verkehrt noch unser gesammter Jugend-<lb/> unterricht ist, wie wir von den Thieren, mit denen wir leben, und die unsere<lb/> nächsten Verwandten sind, fast Nichts lernen, wie unsere sogenannten „gebilde-<lb/> ten“ Gesellschaftsklassen sich in der gröbsten Unkenntniss der Natur, die sie<lb/> umgiebt, in der vollkommensten Unklarheit über ihre Beziehungen zu derselben<lb/> befinden, so kann man sich nicht wundern, wenn gerade über diesen wichtigsten<lb/> Punkt, über die qualitative Uebereinstimmung (und die nur quantitative Diffe-<lb/> renz) der menschlichen und thierischen Psyche die verkehrtesten Vorstellungen<lb/> herrschen.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [86/0125]
Methodik der Morphologie der Organismen.
Dass die inductive und deductive Geistesoperation bei den uns nächst-
verwandten Wirbelthieren überall nach denselben Gesetzen und in derselben
Weise, wie bei uns selbst, zu Stande kommt und angewendet wird, und
dass hier nur quantitative, keine qualitativen Differenzen sich finden, lehrt
jede nur einigermaassen unbefangene und sorgfältige Beobachtung, z. B.
schon bei den uns am meisten umgebenden Hausthieren. Auch hier ge-
hören inductive und deductive Erkenntnisse zu den allgemeinsten und wich-
tigsten psychischen Processen. Wenn z. B. Jagdhunde, wie bekannt, in
die tödtlichste Angst gerathen, sobald der Jäger das Schiessgewehr auf
sie anlegt, so ist diese Erregung die Folge eines vollständigen inductiven
und deductiven Denkprocesses. Durch zahlreiche einzelne Erfahrungen
haben sie die tödtliche Wirkung des Schiessgewehrs kennen gelernt. Sie
schliessen daraus, dass diese Wirkung stets eintritt, sobald das Gewehr
auf ein lebendes Wesen gerichtet wird. Aus diesem als allgemein erkann-
ten Gesetze folgern sie, dass in diesem speciellen Falle dieselbe Wirkung
eintreten werde, und wenn der Jäger nun wirklich auf sie schösse, so hät-
ten sie den vollständigen Beweis von der Richtigkeit ihres deductiven
Schlusses erhalten. Auf dieselben psychischen Operationen gründet sich
auch die gesammte Erziehung der Hausthiere, wie der Menschenkinder,
mittelst der gebräuchlichsten und allgemeinsten Erziehungsmittel, der Schläge.
Ein Pferd z. B. macht in zahlreichen einzelnen Fällen die Erfahrung, dass
mit einem bestimmten Zurufe des Kutschers Schläge verbunden sind, die
aufhören, so bald es sich in Trab setzt. Es folgert daraus durch In-
duction das Gesetz (die Erziehungs-Maxime), dass diese Schläge constant
und allgemein mit dem Zurufe verbunden sind, und setzt sich, um jene zu
vermeiden, späterhin sofort von selbst in Trab, sobald der Zuruf ertönt.
Das Pferd schliesst hier in jedem einzelnen Falle durch Deduction zurück,
dass auf den Zuruf die Schläge erfolgen werden, und wenn sie wirklich
erfolgen, so war die Verification seiner Deduction geliefert.
Diese einfachen Verhältnisse der Induction und Deduction, welche ge-
wissermassen eine in sich selbst zurücklaufende Kette von Ideen-Associa-
tionen herstellen (indem von vielen Einzelnen auf das Allgemeine geschlos-
sen und von diesem auf ein anderes Einzelnes zurück geschlossen wird),
sind ganz dieselben, welche zur Erkenntniss der complicirtesten Ver-
hältnisse und zur Entdeckung der wichtigsten Gesetze in der Naturwis-
senschaft geführt haben. Vor Allen in den am meisten „exacten“ Wissen-
1)
1) nen pflegt, ist nur ein trauriger Deckmantel für unsere bodenlose Unkenntniss.
Wenn man freilich bedenkt, wie gänzlich verkehrt noch unser gesammter Jugend-
unterricht ist, wie wir von den Thieren, mit denen wir leben, und die unsere
nächsten Verwandten sind, fast Nichts lernen, wie unsere sogenannten „gebilde-
ten“ Gesellschaftsklassen sich in der gröbsten Unkenntniss der Natur, die sie
umgiebt, in der vollkommensten Unklarheit über ihre Beziehungen zu derselben
befinden, so kann man sich nicht wundern, wenn gerade über diesen wichtigsten
Punkt, über die qualitative Uebereinstimmung (und die nur quantitative Diffe-
renz) der menschlichen und thierischen Psyche die verkehrtesten Vorstellungen
herrschen.
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