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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Induction und Deduction.
schaften, in der Astronomie und Mechanik, in der Chemie und Physik, in
der Geologie und Mineralogie wird von der inductiven und der ergänzen-
den deductiven Methode allgemein der weiteste und fruchtbarste Gebrauch
gemacht. Nur in den biologischen Wissenschaften, und ganz besonders in
der Morphologie der Organismen, besteht noch allgemein eine solche Scheu
vor Anwendung dieser wichtigsten Erkenntniss-Methoden, dass man sich
lieber der rohesten und gedankenlosesten Empirie in die Arme wirft, als
dass man zu ihnen seine Zuflucht nähme. Fragen wir nach den Gründen
dieser seltsamen Erscheinung, so finden wir sie auch hier wieder theils in
der allgemeinen Abneigung der Biologen, und namentlich der Morphologen,
gegen alle strengen philosophischen Methoden, theils in der Unkenntniss
derselben, theils in der Furcht vor den Schwierigkeiten ihrer Anwendung
und vor den Gefahren, welche dieselben mit sich bringen.

Nun ist es allerdings richtig, dass diese Gefahren, welche in der na-
türlichen Unvollständigkeit, in der nur annähernden Sicherheit der inductiven
und deductiven Methode selbst begründet sind, gerade auf dem Gebiete
der organischen Morphologie grösser sind, als irgendwo. Denn nirgends
so wie hier ist einer subjectiven und willkührlichen Erkenntniss Thür und
Thor geöffnet; nirgends gelten so wenig feste unverbrüchliche Gesetze und
Regeln als auf diesem Gebiete; und nirgends so wie hier, gehen factisch
die Ansichten der verschiedenen Naturforscher über eine und dieselbe Sache
auf das Weiteste aus einander. Allein wenn auch der Weg hier besonders
schlüpfrig und gefährlich, wenn der Irrthum und Fehltritt hier besonders
leicht und nahe ist, so müssen wir dennoch diesen Weg betreten, als den
einzig möglichen, auf dem wir überhaupt vorwärts kommen können.

Auf allen Gebieten der organischen Morphologie, in der Tectologie
wie in der Promorphologie, in der Ontogenie wie in der Phylogenie, überall
werden wir der Induction und der darauffolgenden Deduction, deren Veri-
fication selbst erst die Induction sicher stellt, den weitesten Spielraum
gönnen, die allgemeinste Anwendung geben müssen, wenn wir überhaupt
zu unserm Ziele, zur Erkenntniss allgemeiner Bildungsgesetze gelangen
wollen. Kaum werden wir aber so oft und so allgemein irgendwo inductive
und deductive Methode verbunden zur Anwendung bringen müssen, als in
der Phylogenie, in der paläontologischen Entwickelungsgeschichte und der
genealogischen Verwandtschaftslehre der Organismen. Hier beruht ge-
radezu jeder Fortschritt zu der Erkenntniss der allgemeinen Gesetze auf
der weitesten und vollständigsten Anwendung der Deduction. Mit der In-
duction allein würden wir hier keinen Schritt vorwärts kommen. Die In-
duction fusst ausschliesslich auf der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung.
Da wir nun von keinem einzigen fossilen, ausgestorbenen Organismus den
ganzen Körper, sondern stets nur einzelne Theile desselben, meist sogar
nur unbedeutende Fragmente kennen, so müssen wir nothwendig zur Er-
gänzung derselben unsere Zuflucht zur Deduction nehmen. Wir haben aus
der vergleichenden Anatomie der lebenden Verwandten des fossilen Or-
ganismus, von dem wir nur ein kleines, aber charakteristisches Fragment be-
sitzen, die allgemeinen Organisationsgesetze inductiv erschlossen, welche
dieser ganzen Gruppe eigenthümlich sind, und wir folgern daraus, dass auch

III. Induction und Deduction.
schaften, in der Astronomie und Mechanik, in der Chemie und Physik, in
der Geologie und Mineralogie wird von der inductiven und der ergänzen-
den deductiven Methode allgemein der weiteste und fruchtbarste Gebrauch
gemacht. Nur in den biologischen Wissenschaften, und ganz besonders in
der Morphologie der Organismen, besteht noch allgemein eine solche Scheu
vor Anwendung dieser wichtigsten Erkenntniss-Methoden, dass man sich
lieber der rohesten und gedankenlosesten Empirie in die Arme wirft, als
dass man zu ihnen seine Zuflucht nähme. Fragen wir nach den Gründen
dieser seltsamen Erscheinung, so finden wir sie auch hier wieder theils in
der allgemeinen Abneigung der Biologen, und namentlich der Morphologen,
gegen alle strengen philosophischen Methoden, theils in der Unkenntniss
derselben, theils in der Furcht vor den Schwierigkeiten ihrer Anwendung
und vor den Gefahren, welche dieselben mit sich bringen.

Nun ist es allerdings richtig, dass diese Gefahren, welche in der na-
türlichen Unvollständigkeit, in der nur annähernden Sicherheit der inductiven
und deductiven Methode selbst begründet sind, gerade auf dem Gebiete
der organischen Morphologie grösser sind, als irgendwo. Denn nirgends
so wie hier ist einer subjectiven und willkührlichen Erkenntniss Thür und
Thor geöffnet; nirgends gelten so wenig feste unverbrüchliche Gesetze und
Regeln als auf diesem Gebiete; und nirgends so wie hier, gehen factisch
die Ansichten der verschiedenen Naturforscher über eine und dieselbe Sache
auf das Weiteste aus einander. Allein wenn auch der Weg hier besonders
schlüpfrig und gefährlich, wenn der Irrthum und Fehltritt hier besonders
leicht und nahe ist, so müssen wir dennoch diesen Weg betreten, als den
einzig möglichen, auf dem wir überhaupt vorwärts kommen können.

Auf allen Gebieten der organischen Morphologie, in der Tectologie
wie in der Promorphologie, in der Ontogenie wie in der Phylogenie, überall
werden wir der Induction und der darauffolgenden Deduction, deren Veri-
fication selbst erst die Induction sicher stellt, den weitesten Spielraum
gönnen, die allgemeinste Anwendung geben müssen, wenn wir überhaupt
zu unserm Ziele, zur Erkenntniss allgemeiner Bildungsgesetze gelangen
wollen. Kaum werden wir aber so oft und so allgemein irgendwo inductive
und deductive Methode verbunden zur Anwendung bringen müssen, als in
der Phylogenie, in der paläontologischen Entwickelungsgeschichte und der
genealogischen Verwandtschaftslehre der Organismen. Hier beruht ge-
radezu jeder Fortschritt zu der Erkenntniss der allgemeinen Gesetze auf
der weitesten und vollständigsten Anwendung der Deduction. Mit der In-
duction allein würden wir hier keinen Schritt vorwärts kommen. Die In-
duction fusst ausschliesslich auf der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung.
Da wir nun von keinem einzigen fossilen, ausgestorbenen Organismus den
ganzen Körper, sondern stets nur einzelne Theile desselben, meist sogar
nur unbedeutende Fragmente kennen, so müssen wir nothwendig zur Er-
gänzung derselben unsere Zuflucht zur Deduction nehmen. Wir haben aus
der vergleichenden Anatomie der lebenden Verwandten des fossilen Or-
ganismus, von dem wir nur ein kleines, aber charakteristisches Fragment be-
sitzen, die allgemeinen Organisationsgesetze inductiv erschlossen, welche
dieser ganzen Gruppe eigenthümlich sind, und wir folgern daraus, dass auch

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[87/0126] III. Induction und Deduction. schaften, in der Astronomie und Mechanik, in der Chemie und Physik, in der Geologie und Mineralogie wird von der inductiven und der ergänzen- den deductiven Methode allgemein der weiteste und fruchtbarste Gebrauch gemacht. Nur in den biologischen Wissenschaften, und ganz besonders in der Morphologie der Organismen, besteht noch allgemein eine solche Scheu vor Anwendung dieser wichtigsten Erkenntniss-Methoden, dass man sich lieber der rohesten und gedankenlosesten Empirie in die Arme wirft, als dass man zu ihnen seine Zuflucht nähme. Fragen wir nach den Gründen dieser seltsamen Erscheinung, so finden wir sie auch hier wieder theils in der allgemeinen Abneigung der Biologen, und namentlich der Morphologen, gegen alle strengen philosophischen Methoden, theils in der Unkenntniss derselben, theils in der Furcht vor den Schwierigkeiten ihrer Anwendung und vor den Gefahren, welche dieselben mit sich bringen. Nun ist es allerdings richtig, dass diese Gefahren, welche in der na- türlichen Unvollständigkeit, in der nur annähernden Sicherheit der inductiven und deductiven Methode selbst begründet sind, gerade auf dem Gebiete der organischen Morphologie grösser sind, als irgendwo. Denn nirgends so wie hier ist einer subjectiven und willkührlichen Erkenntniss Thür und Thor geöffnet; nirgends gelten so wenig feste unverbrüchliche Gesetze und Regeln als auf diesem Gebiete; und nirgends so wie hier, gehen factisch die Ansichten der verschiedenen Naturforscher über eine und dieselbe Sache auf das Weiteste aus einander. Allein wenn auch der Weg hier besonders schlüpfrig und gefährlich, wenn der Irrthum und Fehltritt hier besonders leicht und nahe ist, so müssen wir dennoch diesen Weg betreten, als den einzig möglichen, auf dem wir überhaupt vorwärts kommen können. Auf allen Gebieten der organischen Morphologie, in der Tectologie wie in der Promorphologie, in der Ontogenie wie in der Phylogenie, überall werden wir der Induction und der darauffolgenden Deduction, deren Veri- fication selbst erst die Induction sicher stellt, den weitesten Spielraum gönnen, die allgemeinste Anwendung geben müssen, wenn wir überhaupt zu unserm Ziele, zur Erkenntniss allgemeiner Bildungsgesetze gelangen wollen. Kaum werden wir aber so oft und so allgemein irgendwo inductive und deductive Methode verbunden zur Anwendung bringen müssen, als in der Phylogenie, in der paläontologischen Entwickelungsgeschichte und der genealogischen Verwandtschaftslehre der Organismen. Hier beruht ge- radezu jeder Fortschritt zu der Erkenntniss der allgemeinen Gesetze auf der weitesten und vollständigsten Anwendung der Deduction. Mit der In- duction allein würden wir hier keinen Schritt vorwärts kommen. Die In- duction fusst ausschliesslich auf der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung. Da wir nun von keinem einzigen fossilen, ausgestorbenen Organismus den ganzen Körper, sondern stets nur einzelne Theile desselben, meist sogar nur unbedeutende Fragmente kennen, so müssen wir nothwendig zur Er- gänzung derselben unsere Zuflucht zur Deduction nehmen. Wir haben aus der vergleichenden Anatomie der lebenden Verwandten des fossilen Or- ganismus, von dem wir nur ein kleines, aber charakteristisches Fragment be- sitzen, die allgemeinen Organisationsgesetze inductiv erschlossen, welche dieser ganzen Gruppe eigenthümlich sind, und wir folgern daraus, dass auch

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/126>, abgerufen am 21.11.2024.