Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.Methodik der Morphologie der Organismen. diese ausgestorbene Art dieselben Verhältnisse gezeigt haben werde. Fin-den wir nun nachträglich noch vollständigere Reste derselben, welche diese Folgerung bestätigen, so ist unsere Deduction verificirt. Cuvier hatte durch die genauesten vergleichend anatomischen Untersuchungen sich (auf in- ductivem Wege) eine vollständige Kenntniss vom Bau der Beutelthiere ge- bildet. Als ihm eines Tages ein fossiler Unterkiefer gebracht wurde, schloss er aus einer gewissen Formeigenthümlichkeit desselben sofort (auf deductivem Wege), dass derselbe einem Beutelthier angehöre, und die nachfolgende Ausgrabung des ganzen Skelets verificirte diese Deduction vollständig, machte die Probe, die zu seiner Rechnung stimmte. In äusserst zahlreichen Fällen bilden wir uns auf vergleichend ana- Viertes Capitel: Zweite Hälfte. Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich gegen- seitig nothwendig ausschliessen müssen. IV. Dogmatik und Kritik. "In aller Bearbeitung der Wissenschaften treten sich stets zwei Methodik der Morphologie der Organismen. diese ausgestorbene Art dieselben Verhältnisse gezeigt haben werde. Fin-den wir nun nachträglich noch vollständigere Reste derselben, welche diese Folgerung bestätigen, so ist unsere Deduction verificirt. Cuvier hatte durch die genauesten vergleichend anatomischen Untersuchungen sich (auf in- ductivem Wege) eine vollständige Kenntniss vom Bau der Beutelthiere ge- bildet. Als ihm eines Tages ein fossiler Unterkiefer gebracht wurde, schloss er aus einer gewissen Formeigenthümlichkeit desselben sofort (auf deductivem Wege), dass derselbe einem Beutelthier angehöre, und die nachfolgende Ausgrabung des ganzen Skelets verificirte diese Deduction vollständig, machte die Probe, die zu seiner Rechnung stimmte. In äusserst zahlreichen Fällen bilden wir uns auf vergleichend ana- Viertes Capitel: Zweite Hälfte. Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich gegen- seitig nothwendig ausschliessen müssen. IV. Dogmatik und Kritik. „In aller Bearbeitung der Wissenschaften treten sich stets zwei <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0127" n="88"/><fw place="top" type="header">Methodik der Morphologie der Organismen.</fw><lb/> diese ausgestorbene Art dieselben Verhältnisse gezeigt haben werde. Fin-<lb/> den wir nun nachträglich noch vollständigere Reste derselben, welche diese<lb/> Folgerung bestätigen, so ist unsere Deduction verificirt. <hi rendition="#g">Cuvier</hi> hatte durch<lb/> die genauesten vergleichend anatomischen Untersuchungen sich (auf in-<lb/> ductivem Wege) eine vollständige Kenntniss vom Bau der Beutelthiere ge-<lb/> bildet. Als ihm eines Tages ein fossiler Unterkiefer gebracht wurde, schloss<lb/> er aus einer gewissen Formeigenthümlichkeit desselben sofort (auf deductivem<lb/> Wege), dass derselbe einem Beutelthier angehöre, und die nachfolgende<lb/> Ausgrabung des ganzen Skelets verificirte diese Deduction vollständig,<lb/> machte die Probe, die zu seiner Rechnung stimmte.</p><lb/> <p>In äusserst zahlreichen Fällen bilden wir uns auf vergleichend ana-<lb/> tomischem und embryologischem Wege, durch Induction, bestimmte allge-<lb/> meine Vorstellungen von den natürlichen Verwandtschaftsverhältnissen gan-<lb/> zer Organismen-Gruppen. Diese drücken wir am kürzesten und anschau-<lb/> lichsten dadurch aus, dass wir dieselben in Form eines Stammbaums, einer<lb/> genealogischen Tabelle zusammenstellen. Niemals aber ist dieser Stamm-<lb/> baum vollständig, indem immer zahlreiche (lebende oder fossile) Ueber-<lb/> gangsglieder zwischen den verwandten Formen fehlen. Durch Deduction<lb/> schliessen wir auf die (jetzige oder frühere) Existenz dieser verbindenden<lb/> Uebergangsglieder, und wenn dieselben (wie das schon oftmals geschehen<lb/> ist) nachträglich wirklich entdeckt werden, so ist unsere Deduction durch<lb/> die nachfolgende Verification auf das Glänzendste gerechtfertigt.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Viertes Capitel: Zweite Hälfte</hi>.</hi><lb/> <hi rendition="#k">Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich gegen-<lb/> seitig nothwendig ausschliessen müssen.</hi> </head><lb/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#b">IV. Dogmatik und Kritik.</hi> </head><lb/> <p>„In aller Bearbeitung der Wissenschaften treten sich stets zwei<lb/> Methoden als unmittelbare Gegensätze gegenüber. Einerseits ist es<lb/> die <hi rendition="#g">dogmatische</hi> Behandlung, die schon Alles weiss, der mit ihrem<lb/> augenblicklichen Standpunkt die Geschichte ein Ende erreicht hat,<lb/> die ihre Weisheit wohl vertheilt und wohl geordnet vorträgt, und von<lb/> ihren Schülern keinen andern Bestimmungsgrund zur Annahme des<lb/> Gehörten fordert, als das αὐτὸς ἔφα. Dieser in ihrem ganzen Wesen<lb/> falschen Weise tritt nun die andere entgegen, die wir für die reine<lb/> Philosophie die <hi rendition="#g">kritische,</hi> für die angewandte Philosophie und für<lb/> die Naturwissenschaften die inductorische Methode nennen; die sich be-<lb/> scheidet noch wenig zu wissen; die ihren Standpunkt von vornherein<lb/> nur als eine Stufe in der Geschichte der Menschheit ansieht, über<lb/> welche hinaus es noch viele folgende und höhere giebt, die aber frei-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [88/0127]
Methodik der Morphologie der Organismen.
diese ausgestorbene Art dieselben Verhältnisse gezeigt haben werde. Fin-
den wir nun nachträglich noch vollständigere Reste derselben, welche diese
Folgerung bestätigen, so ist unsere Deduction verificirt. Cuvier hatte durch
die genauesten vergleichend anatomischen Untersuchungen sich (auf in-
ductivem Wege) eine vollständige Kenntniss vom Bau der Beutelthiere ge-
bildet. Als ihm eines Tages ein fossiler Unterkiefer gebracht wurde, schloss
er aus einer gewissen Formeigenthümlichkeit desselben sofort (auf deductivem
Wege), dass derselbe einem Beutelthier angehöre, und die nachfolgende
Ausgrabung des ganzen Skelets verificirte diese Deduction vollständig,
machte die Probe, die zu seiner Rechnung stimmte.
In äusserst zahlreichen Fällen bilden wir uns auf vergleichend ana-
tomischem und embryologischem Wege, durch Induction, bestimmte allge-
meine Vorstellungen von den natürlichen Verwandtschaftsverhältnissen gan-
zer Organismen-Gruppen. Diese drücken wir am kürzesten und anschau-
lichsten dadurch aus, dass wir dieselben in Form eines Stammbaums, einer
genealogischen Tabelle zusammenstellen. Niemals aber ist dieser Stamm-
baum vollständig, indem immer zahlreiche (lebende oder fossile) Ueber-
gangsglieder zwischen den verwandten Formen fehlen. Durch Deduction
schliessen wir auf die (jetzige oder frühere) Existenz dieser verbindenden
Uebergangsglieder, und wenn dieselben (wie das schon oftmals geschehen
ist) nachträglich wirklich entdeckt werden, so ist unsere Deduction durch
die nachfolgende Verification auf das Glänzendste gerechtfertigt.
Viertes Capitel: Zweite Hälfte.
Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich gegen-
seitig nothwendig ausschliessen müssen.
IV. Dogmatik und Kritik.
„In aller Bearbeitung der Wissenschaften treten sich stets zwei
Methoden als unmittelbare Gegensätze gegenüber. Einerseits ist es
die dogmatische Behandlung, die schon Alles weiss, der mit ihrem
augenblicklichen Standpunkt die Geschichte ein Ende erreicht hat,
die ihre Weisheit wohl vertheilt und wohl geordnet vorträgt, und von
ihren Schülern keinen andern Bestimmungsgrund zur Annahme des
Gehörten fordert, als das αὐτὸς ἔφα. Dieser in ihrem ganzen Wesen
falschen Weise tritt nun die andere entgegen, die wir für die reine
Philosophie die kritische, für die angewandte Philosophie und für
die Naturwissenschaften die inductorische Methode nennen; die sich be-
scheidet noch wenig zu wissen; die ihren Standpunkt von vornherein
nur als eine Stufe in der Geschichte der Menschheit ansieht, über
welche hinaus es noch viele folgende und höhere giebt, die aber frei-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |