Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.Methodik der Morphologie der Organismen. Unzweckmässigkeitslehre, Dysteleologie nennen könnten. Jeder höhereund entwickeltere Organismus, und wahrscheinlich die grosse Mehrzahl der Organismen überhaupt, ist im Besitz von Organen, welche keine Functionen haben, welche zu keiner Zeit des Lebens jemals thätig sind, und welche im besten Falle dem Organismus gleichgültig, häufig ihm aber geradezu nachtheilig sind. Diese rudimentären Organe, welche zu aller Zeit das grösste Kreuz der Teleologie waren, sind in der That für dieselbe das unübersteiglichste Hinderniss, und diese sowohl, als die zahlreichen an- deren unzweckmässigen und unvollkommenen, oft sogar für den Organismus selbst höchst nachtheiligen und schäd- lichen Einrichtungen, welche bei zahlreichen Organismen vorkom- men, lassen sich lediglich aus den mechanischen wirkenden Ursachen, und durchaus nicht aus zweckthätigen Endursachen erklären. 1) Diese Erklärung ist nun zuerst von Darwin gegeben worden. Seine grosse Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein er- klärt alle diese Verhältnisse ganz vollkommen, wie im fünften und sechsten Buche gezeigt werden wird. Da wir dort diese Verhältnisse noch ausführlich zu erörtern haben, 1) Dass wirklich im Thier- und Pflanzenreich äusserst zahlreiche höchst un- vollkommene und unpraktische, unnütze und schädliche Organisations-Verhält- nisse existiren, welche die Existenz der betreffenden Organismen selbst in mehr oder minder hohem Grade gefährden, und sehr häufig ihren Untergang herbei- führen, ist eine bisher zwar wenig hervorgehobene, aber äusserst wichtige That- sache, welche jedem Botaniker und Zoologen, der einen weiteren Ueberblick über sein Gebiet besitzt, bekannt ist. Den schlagendsten Beweis dafür liefern die complicirten Verhältnisse des Kampfes um das Dasein, in welchem in jedem Augenblick Tausende von Organismen zu Grunde gehen, um den vollkommeneren und weniger unzweckmässig organisirten Formen von derselben "Art" Platz zu machen. Die gesammte Palaeontologie bildet hierfür eine fortlaufende Beweis- kette, und schon in dieser Beziehung allein den glänzendsten Beweis für die Wahrheit der genialen Lehre Darwin's. 2) Von der gänzlichen Verkennung und dem vollständigen Missverständniss,
welche Darwin's Begründung der Descendenz-Theorie nicht allein bei vielen Laien, sondern auch bei zahlreichen, und selbst bei sehr berühmten Naturfor- schern gefunden hat, legt vielleicht kein Umstand schlagenderes Zeugniss ab, als die wahrhaft komische Thatsache, dass man Darwin's Lehre alles Ernstes Methodik der Morphologie der Organismen. Unzweckmässigkeitslehre, Dysteleologie nennen könnten. Jeder höhereund entwickeltere Organismus, und wahrscheinlich die grosse Mehrzahl der Organismen überhaupt, ist im Besitz von Organen, welche keine Functionen haben, welche zu keiner Zeit des Lebens jemals thätig sind, und welche im besten Falle dem Organismus gleichgültig, häufig ihm aber geradezu nachtheilig sind. Diese rudimentären Organe, welche zu aller Zeit das grösste Kreuz der Teleologie waren, sind in der That für dieselbe das unübersteiglichste Hinderniss, und diese sowohl, als die zahlreichen an- deren unzweckmässigen und unvollkommenen, oft sogar für den Organismus selbst höchst nachtheiligen und schäd- lichen Einrichtungen, welche bei zahlreichen Organismen vorkom- men, lassen sich lediglich aus den mechanischen wirkenden Ursachen, und durchaus nicht aus zweckthätigen Endursachen erklären. 1) Diese Erklärung ist nun zuerst von Darwin gegeben worden. Seine grosse Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein er- klärt alle diese Verhältnisse ganz vollkommen, wie im fünften und sechsten Buche gezeigt werden wird. Da wir dort diese Verhältnisse noch ausführlich zu erörtern haben, 1) Dass wirklich im Thier- und Pflanzenreich äusserst zahlreiche höchst un- vollkommene und unpraktische, unnütze und schädliche Organisations-Verhält- nisse existiren, welche die Existenz der betreffenden Organismen selbst in mehr oder minder hohem Grade gefährden, und sehr häufig ihren Untergang herbei- führen, ist eine bisher zwar wenig hervorgehobene, aber äusserst wichtige That- sache, welche jedem Botaniker und Zoologen, der einen weiteren Ueberblick über sein Gebiet besitzt, bekannt ist. Den schlagendsten Beweis dafür liefern die complicirten Verhältnisse des Kampfes um das Dasein, in welchem in jedem Augenblick Tausende von Organismen zu Grunde gehen, um den vollkommeneren und weniger unzweckmässig organisirten Formen von derselben „Art“ Platz zu machen. Die gesammte Palaeontologie bildet hierfür eine fortlaufende Beweis- kette, und schon in dieser Beziehung allein den glänzendsten Beweis für die Wahrheit der genialen Lehre Darwin’s. 2) Von der gänzlichen Verkennung und dem vollständigen Missverständniss,
welche Darwin’s Begründung der Descendenz-Theorie nicht allein bei vielen Laien, sondern auch bei zahlreichen, und selbst bei sehr berühmten Naturfor- schern gefunden hat, legt vielleicht kein Umstand schlagenderes Zeugniss ab, als die wahrhaft komische Thatsache, dass man Darwin’s Lehre alles Ernstes <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0139" n="100"/><fw place="top" type="header">Methodik der Morphologie der Organismen.</fw><lb/> Unzweckmässigkeitslehre, <hi rendition="#g">Dysteleologie</hi> nennen könnten. Jeder höhere<lb/> und entwickeltere Organismus, und wahrscheinlich die grosse Mehrzahl der<lb/> Organismen überhaupt, ist im Besitz von Organen, welche keine Functionen<lb/> haben, welche zu keiner Zeit des Lebens jemals thätig sind, und welche<lb/> im besten Falle dem Organismus gleichgültig, häufig ihm aber geradezu<lb/> nachtheilig sind. Diese rudimentären Organe, welche zu aller Zeit das<lb/> grösste Kreuz der Teleologie waren, sind in der That für dieselbe das<lb/> unübersteiglichste Hinderniss, und diese sowohl, als die zahlreichen an-<lb/> deren <hi rendition="#g">unzweckmässigen und unvollkommenen, oft sogar für<lb/> den Organismus selbst höchst nachtheiligen und schäd-<lb/> lichen Einrichtungen,</hi> welche bei zahlreichen Organismen vorkom-<lb/> men, lassen sich lediglich aus den mechanischen wirkenden Ursachen,<lb/> und durchaus nicht aus zweckthätigen Endursachen erklären. <note place="foot" n="1)">Dass wirklich im Thier- und Pflanzenreich äusserst zahlreiche höchst un-<lb/> vollkommene und unpraktische, unnütze und schädliche Organisations-Verhält-<lb/> nisse existiren, welche die Existenz der betreffenden Organismen selbst in mehr<lb/> oder minder hohem Grade gefährden, und sehr häufig ihren Untergang herbei-<lb/> führen, ist eine bisher zwar wenig hervorgehobene, aber äusserst wichtige That-<lb/> sache, welche jedem Botaniker und Zoologen, der einen weiteren Ueberblick<lb/> über sein Gebiet besitzt, bekannt ist. Den schlagendsten Beweis dafür liefern<lb/> die complicirten Verhältnisse des Kampfes um das Dasein, in welchem in jedem<lb/> Augenblick Tausende von Organismen zu Grunde gehen, um den vollkommeneren<lb/> und weniger unzweckmässig organisirten Formen von derselben „Art“ Platz zu<lb/> machen. Die gesammte Palaeontologie bildet hierfür eine fortlaufende Beweis-<lb/> kette, und schon in dieser Beziehung allein den glänzendsten Beweis für die<lb/> Wahrheit der genialen Lehre <hi rendition="#g">Darwin’s.</hi></note> Diese<lb/> Erklärung ist nun zuerst von <hi rendition="#g">Darwin</hi> gegeben worden. Seine grosse<lb/> Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein er-<lb/> klärt alle diese Verhältnisse ganz vollkommen, wie im fünften und<lb/> sechsten Buche gezeigt werden wird.</p><lb/> <p>Da wir dort diese Verhältnisse noch ausführlich zu erörtern haben,<lb/> so genügt hier der Hinweis auf das ganz besondere Verdienst, welches<lb/><hi rendition="#g">Darwin</hi> um die definitive Lösung dieser äusserst wichtigen Funda-<lb/> mental-Fragen hat. <hi rendition="#g">Wir erblicken in Darwins Entdeckung der<lb/> natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein den schla-<lb/> gendsten Beweis für die ausschliessliche Gültigkeit der<lb/> mechanisch wirkenden Ursachen auf dem gesammten Ge-<lb/> biete der Biologie, wir erblicken darin den definitiven Tod<lb/> aller teleologischen und vitalistischen Beurtheilung der<lb/> Organismen.</hi> <note xml:id="seg2pn_8_1" next="#seg2pn_8_2" place="foot" n="2)">Von der gänzlichen Verkennung und dem vollständigen Missverständniss,<lb/> welche <hi rendition="#g">Darwin’s</hi> Begründung der Descendenz-Theorie nicht allein bei vielen<lb/> Laien, sondern auch bei zahlreichen, und selbst bei sehr berühmten Naturfor-<lb/> schern gefunden hat, legt vielleicht kein Umstand schlagenderes Zeugniss ab,<lb/> als die wahrhaft komische Thatsache, dass man <hi rendition="#g">Darwin’s</hi> Lehre alles Ernstes</note></p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [100/0139]
Methodik der Morphologie der Organismen.
Unzweckmässigkeitslehre, Dysteleologie nennen könnten. Jeder höhere
und entwickeltere Organismus, und wahrscheinlich die grosse Mehrzahl der
Organismen überhaupt, ist im Besitz von Organen, welche keine Functionen
haben, welche zu keiner Zeit des Lebens jemals thätig sind, und welche
im besten Falle dem Organismus gleichgültig, häufig ihm aber geradezu
nachtheilig sind. Diese rudimentären Organe, welche zu aller Zeit das
grösste Kreuz der Teleologie waren, sind in der That für dieselbe das
unübersteiglichste Hinderniss, und diese sowohl, als die zahlreichen an-
deren unzweckmässigen und unvollkommenen, oft sogar für
den Organismus selbst höchst nachtheiligen und schäd-
lichen Einrichtungen, welche bei zahlreichen Organismen vorkom-
men, lassen sich lediglich aus den mechanischen wirkenden Ursachen,
und durchaus nicht aus zweckthätigen Endursachen erklären. 1) Diese
Erklärung ist nun zuerst von Darwin gegeben worden. Seine grosse
Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein er-
klärt alle diese Verhältnisse ganz vollkommen, wie im fünften und
sechsten Buche gezeigt werden wird.
Da wir dort diese Verhältnisse noch ausführlich zu erörtern haben,
so genügt hier der Hinweis auf das ganz besondere Verdienst, welches
Darwin um die definitive Lösung dieser äusserst wichtigen Funda-
mental-Fragen hat. Wir erblicken in Darwins Entdeckung der
natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein den schla-
gendsten Beweis für die ausschliessliche Gültigkeit der
mechanisch wirkenden Ursachen auf dem gesammten Ge-
biete der Biologie, wir erblicken darin den definitiven Tod
aller teleologischen und vitalistischen Beurtheilung der
Organismen. 2)
1) Dass wirklich im Thier- und Pflanzenreich äusserst zahlreiche höchst un-
vollkommene und unpraktische, unnütze und schädliche Organisations-Verhält-
nisse existiren, welche die Existenz der betreffenden Organismen selbst in mehr
oder minder hohem Grade gefährden, und sehr häufig ihren Untergang herbei-
führen, ist eine bisher zwar wenig hervorgehobene, aber äusserst wichtige That-
sache, welche jedem Botaniker und Zoologen, der einen weiteren Ueberblick
über sein Gebiet besitzt, bekannt ist. Den schlagendsten Beweis dafür liefern
die complicirten Verhältnisse des Kampfes um das Dasein, in welchem in jedem
Augenblick Tausende von Organismen zu Grunde gehen, um den vollkommeneren
und weniger unzweckmässig organisirten Formen von derselben „Art“ Platz zu
machen. Die gesammte Palaeontologie bildet hierfür eine fortlaufende Beweis-
kette, und schon in dieser Beziehung allein den glänzendsten Beweis für die
Wahrheit der genialen Lehre Darwin’s.
2) Von der gänzlichen Verkennung und dem vollständigen Missverständniss,
welche Darwin’s Begründung der Descendenz-Theorie nicht allein bei vielen
Laien, sondern auch bei zahlreichen, und selbst bei sehr berühmten Naturfor-
schern gefunden hat, legt vielleicht kein Umstand schlagenderes Zeugniss ab,
als die wahrhaft komische Thatsache, dass man Darwin’s Lehre alles Ernstes
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