müssen. Denn lediglich aus den Verschiedenheiten, welche sich in der feineren und gröberen Zusammensetzung der Materie zwischen Or- ganismen und Anorganen zeigen, können wir uns die davon unmittelbar abhängigen Verschiedenheiten in den Formen und Kräften (Functionen) beider Gruppen von Naturkörpern erklären.
Da die Aufgabe des vorliegenden Werkes nur die generelle Morpho- logie der Organismen ist, so könnte es unnöthig erscheinen, auch die An- organe hier noch besonders in Betracht zu ziehen und eine Vergleichung zwischen Beiden anzustellen. Indessen hoffen wir, durch diese Vergleichung selbst von dem Gegentheil zu überzeugen. Denn nach unserem Dafürhal- ten ist gerade die Verkennung der innigen Beziehungen, welehe zwischen den leblosen und belebten Naturkörpern überall existiren, vorzugsweise Schuld an der grundfalschen Beurtheilung, welche das Wesen der letzteren gewöhnlich erfahren hat, und an dem teleologisch-vitalistischen Standpunkt, welchen die Mehrzahl der Naturforscher den Organismen gegenüber ein- genommen hat. Wie bei den meisten biologischen Untersuchungen, so hat man auch bei Vergleichung der Organismen und Anorgane fast immer von einseitig analytischem Standpunkte aus nur die trennenden Unterschiede beider Gruppen von materiellen Körpern hervorgehoben, und dagegen die verknüpfende Synthese, welche beide Gruppen durch Hervorhebung ihrer übereinstimmenden Charaktere als ein einheitliches grosses materielles Natur- ganzes darstellt, fast gänzlich vernachlässigt. Wir sind aber zur allseitigen Vergleichung der Organismen und Anorgane hier um so mehr aufgefordert, als die im folgenden Capitel zu besprechende Autogonie nur durch vorur- theilsfreie Würdigung aller Seiten dieses Verhältnisses erklärt werden kann.
Von allen Grenzlinien, durch welche wir bei unseren systematischen Eintheilungs-Versuchen die Naturkörper in natürliche Gruppen zu trennen streben, erscheint keine einzige so scharf, so deutlich, so unübersteiglich, als diejenige, welche wir zwischen den belebten und den leblosen Natur- körpern zu ziehen gewohnt sind. Während die beiden "Reiche" der Thiere und Pflanzen ganz allmählig in einander überzugehen und durch zahlreiche Zwischenformen unmittelbar verbunden zu sein scheinen, während jede ein- zelne grössere und kleinere Abtheilung des Thier- und Pflanzen-Reiches mit einer oder mehreren anderen Abtheilungen ebenfalls durch Zwischen- formen so verknüpft ist, dass jede scharfe Grenzlinie hier mehr oder weniger gezwungen und künstlich erscheint, so sind dagegen Organismen und An- organe im allgemeinen Bewusstsein der Menschen so vollkommen von ein- ander geschieden, durch eine so unübersteigliche Kluft von einander ge- trennt, dass Niemand jemals im concreten Falle darüber in Zweifel sein zu können glaubt, ob der vorliegende Naturkörper als belebter oder als leb- loser zu betrachten sei.
Dieser herrschenden Vorstellung gegenüber, welcher es schon über- flüssig erscheinen dürfte, den "absoluten" Unterschied zwischen Organismen und Anorganen überhaupt nur in Frage zu ziehen, erscheint es doppelt noth- wendig, hier ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass auch diese Unterschei- dung nur bis zu einer gewissen Grenze gültig ist. Denn die beiden Gruppen
Haeckel, Generelle Morphologie. 8
I. Organische und anorganische Stoffe.
müssen. Denn lediglich aus den Verschiedenheiten, welche sich in der feineren und gröberen Zusammensetzung der Materie zwischen Or- ganismen und Anorganen zeigen, können wir uns die davon unmittelbar abhängigen Verschiedenheiten in den Formen und Kräften (Functionen) beider Gruppen von Naturkörpern erklären.
Da die Aufgabe des vorliegenden Werkes nur die generelle Morpho- logie der Organismen ist, so könnte es unnöthig erscheinen, auch die An- organe hier noch besonders in Betracht zu ziehen und eine Vergleichung zwischen Beiden anzustellen. Indessen hoffen wir, durch diese Vergleichung selbst von dem Gegentheil zu überzeugen. Denn nach unserem Dafürhal- ten ist gerade die Verkennung der innigen Beziehungen, welehe zwischen den leblosen und belebten Naturkörpern überall existiren, vorzugsweise Schuld an der grundfalschen Beurtheilung, welche das Wesen der letzteren gewöhnlich erfahren hat, und an dem teleologisch-vitalistischen Standpunkt, welchen die Mehrzahl der Naturforscher den Organismen gegenüber ein- genommen hat. Wie bei den meisten biologischen Untersuchungen, so hat man auch bei Vergleichung der Organismen und Anorgane fast immer von einseitig analytischem Standpunkte aus nur die trennenden Unterschiede beider Gruppen von materiellen Körpern hervorgehoben, und dagegen die verknüpfende Synthese, welche beide Gruppen durch Hervorhebung ihrer übereinstimmenden Charaktere als ein einheitliches grosses materielles Natur- ganzes darstellt, fast gänzlich vernachlässigt. Wir sind aber zur allseitigen Vergleichung der Organismen und Anorgane hier um so mehr aufgefordert, als die im folgenden Capitel zu besprechende Autogonie nur durch vorur- theilsfreie Würdigung aller Seiten dieses Verhältnisses erklärt werden kann.
Von allen Grenzlinien, durch welche wir bei unseren systematischen Eintheilungs-Versuchen die Naturkörper in natürliche Gruppen zu trennen streben, erscheint keine einzige so scharf, so deutlich, so unübersteiglich, als diejenige, welche wir zwischen den belebten und den leblosen Natur- körpern zu ziehen gewohnt sind. Während die beiden „Reiche“ der Thiere und Pflanzen ganz allmählig in einander überzugehen und durch zahlreiche Zwischenformen unmittelbar verbunden zu sein scheinen, während jede ein- zelne grössere und kleinere Abtheilung des Thier- und Pflanzen-Reiches mit einer oder mehreren anderen Abtheilungen ebenfalls durch Zwischen- formen so verknüpft ist, dass jede scharfe Grenzlinie hier mehr oder weniger gezwungen und künstlich erscheint, so sind dagegen Organismen und An- organe im allgemeinen Bewusstsein der Menschen so vollkommen von ein- ander geschieden, durch eine so unübersteigliche Kluft von einander ge- trennt, dass Niemand jemals im concreten Falle darüber in Zweifel sein zu können glaubt, ob der vorliegende Naturkörper als belebter oder als leb- loser zu betrachten sei.
Dieser herrschenden Vorstellung gegenüber, welcher es schon über- flüssig erscheinen dürfte, den „absoluten“ Unterschied zwischen Organismen und Anorganen überhaupt nur in Frage zu ziehen, erscheint es doppelt noth- wendig, hier ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass auch diese Unterschei- dung nur bis zu einer gewissen Grenze gültig ist. Denn die beiden Gruppen
Haeckel, Generelle Morphologie. 8
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I. Organische und anorganische Stoffe.
müssen. Denn lediglich aus den Verschiedenheiten, welche sich in der
feineren und gröberen Zusammensetzung der Materie zwischen Or-
ganismen und Anorganen zeigen, können wir uns die davon unmittelbar
abhängigen Verschiedenheiten in den Formen und Kräften (Functionen)
beider Gruppen von Naturkörpern erklären.
Da die Aufgabe des vorliegenden Werkes nur die generelle Morpho-
logie der Organismen ist, so könnte es unnöthig erscheinen, auch die An-
organe hier noch besonders in Betracht zu ziehen und eine Vergleichung
zwischen Beiden anzustellen. Indessen hoffen wir, durch diese Vergleichung
selbst von dem Gegentheil zu überzeugen. Denn nach unserem Dafürhal-
ten ist gerade die Verkennung der innigen Beziehungen, welehe zwischen
den leblosen und belebten Naturkörpern überall existiren, vorzugsweise
Schuld an der grundfalschen Beurtheilung, welche das Wesen der letzteren
gewöhnlich erfahren hat, und an dem teleologisch-vitalistischen Standpunkt,
welchen die Mehrzahl der Naturforscher den Organismen gegenüber ein-
genommen hat. Wie bei den meisten biologischen Untersuchungen, so hat
man auch bei Vergleichung der Organismen und Anorgane fast immer von
einseitig analytischem Standpunkte aus nur die trennenden Unterschiede
beider Gruppen von materiellen Körpern hervorgehoben, und dagegen die
verknüpfende Synthese, welche beide Gruppen durch Hervorhebung ihrer
übereinstimmenden Charaktere als ein einheitliches grosses materielles Natur-
ganzes darstellt, fast gänzlich vernachlässigt. Wir sind aber zur allseitigen
Vergleichung der Organismen und Anorgane hier um so mehr aufgefordert,
als die im folgenden Capitel zu besprechende Autogonie nur durch vorur-
theilsfreie Würdigung aller Seiten dieses Verhältnisses erklärt werden kann.
Von allen Grenzlinien, durch welche wir bei unseren systematischen
Eintheilungs-Versuchen die Naturkörper in natürliche Gruppen zu trennen
streben, erscheint keine einzige so scharf, so deutlich, so unübersteiglich,
als diejenige, welche wir zwischen den belebten und den leblosen Natur-
körpern zu ziehen gewohnt sind. Während die beiden „Reiche“ der Thiere
und Pflanzen ganz allmählig in einander überzugehen und durch zahlreiche
Zwischenformen unmittelbar verbunden zu sein scheinen, während jede ein-
zelne grössere und kleinere Abtheilung des Thier- und Pflanzen-Reiches
mit einer oder mehreren anderen Abtheilungen ebenfalls durch Zwischen-
formen so verknüpft ist, dass jede scharfe Grenzlinie hier mehr oder weniger
gezwungen und künstlich erscheint, so sind dagegen Organismen und An-
organe im allgemeinen Bewusstsein der Menschen so vollkommen von ein-
ander geschieden, durch eine so unübersteigliche Kluft von einander ge-
trennt, dass Niemand jemals im concreten Falle darüber in Zweifel sein zu
können glaubt, ob der vorliegende Naturkörper als belebter oder als leb-
loser zu betrachten sei.
Dieser herrschenden Vorstellung gegenüber, welcher es schon über-
flüssig erscheinen dürfte, den „absoluten“ Unterschied zwischen Organismen
und Anorganen überhaupt nur in Frage zu ziehen, erscheint es doppelt noth-
wendig, hier ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass auch diese Unterschei-
dung nur bis zu einer gewissen Grenze gültig ist. Denn die beiden Gruppen
Haeckel, Generelle Morphologie. 8
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/152>, abgerufen am 24.11.2024.
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