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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Organismen und Anorgane.
stoff-Verbindungen, gleichwie in ihrer complicirteren Zusammensetzung
aus verwickelten Atomgruppen (welche wahrscheinlich eng mit der
Quellungsfähigkeit zusammenhängt) eine der wichtigsten Grundursachen
des Lebens zu finden. Es wird daher zur Begründung unserer monisti-
schen Lebens-Beurtheilung hier gestattet sein, bei dem Fundamental-
Phaenomen der Imbibition noch etwas zu verweilen, zumal auch für die
Form der Organismen dieser vierte Aggregatzustand von der grössten
Bedeutung ist.

Da eine eigentliche Quellung oder Imbibition bei den Anorganen nie-
mals vorkommt, so entsteht die Frage, ob hier ähnliche Modificationen der
ersten drei Aggregatzustände vorkommen, welche der Imbibition in einigen
Beziehungen gleichen. Hier tritt uns nun einerseits das Phaenomen der
Tränkung oder Durchfeuchtung (Humidation), andererseits die Er-
scheinung der Lösung oder Auflösung (Solution) entgegen. Bei der
Durchfeuchtung oder Humidation sehen wir Flüssigkeit in die Poren fester
Körper eindringen, ohne dass eine wirkliche Imbibition und Quellung der-
selben stattfindet. Das ist z. B. der Fall bei Steinen (und zwar nicht nur
bei auffallend "porösen", sondern auch bei den scheinbar dichtesten und
festesten Gesteinarten), welche längere Zeit auf dem Grunde des Meeres
gelegen haben. So wenig diese Durchfeuchtung den festen Aggregatzu-
stand der Anorgane und damit ihr Volum zu ändern vermag, so wenig
werden diese geändert, wenn die beträchtliche Menge der eingedrungenen
Flüssigkeit durch Austrocknen wieder entfernt wird. Niemals kann daher
auch die vollständigste Durchfeuchtung eine solche Beweglichkeit der
Moleküle und damit eine solche Formveränderlichkeit der festen Körper
herbeiführen, wie sie durch die Quellung gegeben wird. Andererseits aber
ist hervorzuheben, dass bei den organischen Körpertheilen zwischen den
höchsten Graden der Durchfeuchtung und den niedersten Graden der Quel-
lung ein ganz allmähliger und unmerklicher Uebergang stattfindet, und wir
können diesen Uebergang oft an einem und demselben Theile eines Or-
ganismus in continuo verfolgen. Insbesondere ist in dieser Beziehung eine
Vergleichung continuirlich zusammenhängender Skelettheile von Interesse,
und zwar gilt dies sowohl von den inneren, der Bindegewebsgruppe ange-
hörigen Skelettheilen der Wirbelthiere, als von den äusseren, zu den Chitin-
ausscheidungen zu rechnenden Skelettheilen der Gliederthiere. Der Aggre-
gatzustand eines Knochens, (und zwar speciell der Intercellular- oder Grund-
substanz des Knochens, die hier zunächst in Frage kommt) ist an sich, als
solcher, (abgesehen natürlich von den feineren Structurdifferenzen), nicht zu
unterscheiden von dem festen Aggregatzustande vollkommen durchfeuchteter
Mineralien, (z. B. Sandstein, Kalkstein), die lange in Wasser gelegen ha-
ben. Und dennoch geht dieser unzweifelhaft "feste" Aggregatzustand eines
Knochens durch eine Reihenfolge der feinsten Uebergangsstufen ganz all-
mählig in den unzweifelhaft "festflüssigen", d. h. gequollenen Zustand des
Knorpels, der Sehne u. s. w. über. In gleicher Weise sind die unzweifel-
haft "festen" und bloss durchfeuchteten Chitindecken z. B. der Abdominal-
segmente von Insecten durch eine ganz allmählige Stufenfolge der unmerk-

Organismen und Anorgane.
stoff-Verbindungen, gleichwie in ihrer complicirteren Zusammensetzung
aus verwickelten Atomgruppen (welche wahrscheinlich eng mit der
Quellungsfähigkeit zusammenhängt) eine der wichtigsten Grundursachen
des Lebens zu finden. Es wird daher zur Begründung unserer monisti-
schen Lebens-Beurtheilung hier gestattet sein, bei dem Fundamental-
Phaenomen der Imbibition noch etwas zu verweilen, zumal auch für die
Form der Organismen dieser vierte Aggregatzustand von der grössten
Bedeutung ist.

Da eine eigentliche Quellung oder Imbibition bei den Anorganen nie-
mals vorkommt, so entsteht die Frage, ob hier ähnliche Modificationen der
ersten drei Aggregatzustände vorkommen, welche der Imbibition in einigen
Beziehungen gleichen. Hier tritt uns nun einerseits das Phaenomen der
Tränkung oder Durchfeuchtung (Humidation), andererseits die Er-
scheinung der Lösung oder Auflösung (Solution) entgegen. Bei der
Durchfeuchtung oder Humidation sehen wir Flüssigkeit in die Poren fester
Körper eindringen, ohne dass eine wirkliche Imbibition und Quellung der-
selben stattfindet. Das ist z. B. der Fall bei Steinen (und zwar nicht nur
bei auffallend „porösen“, sondern auch bei den scheinbar dichtesten und
festesten Gesteinarten), welche längere Zeit auf dem Grunde des Meeres
gelegen haben. So wenig diese Durchfeuchtung den festen Aggregatzu-
stand der Anorgane und damit ihr Volum zu ändern vermag, so wenig
werden diese geändert, wenn die beträchtliche Menge der eingedrungenen
Flüssigkeit durch Austrocknen wieder entfernt wird. Niemals kann daher
auch die vollständigste Durchfeuchtung eine solche Beweglichkeit der
Moleküle und damit eine solche Formveränderlichkeit der festen Körper
herbeiführen, wie sie durch die Quellung gegeben wird. Andererseits aber
ist hervorzuheben, dass bei den organischen Körpertheilen zwischen den
höchsten Graden der Durchfeuchtung und den niedersten Graden der Quel-
lung ein ganz allmähliger und unmerklicher Uebergang stattfindet, und wir
können diesen Uebergang oft an einem und demselben Theile eines Or-
ganismus in continuo verfolgen. Insbesondere ist in dieser Beziehung eine
Vergleichung continuirlich zusammenhängender Skelettheile von Interesse,
und zwar gilt dies sowohl von den inneren, der Bindegewebsgruppe ange-
hörigen Skelettheilen der Wirbelthiere, als von den äusseren, zu den Chitin-
ausscheidungen zu rechnenden Skelettheilen der Gliederthiere. Der Aggre-
gatzustand eines Knochens, (und zwar speciell der Intercellular- oder Grund-
substanz des Knochens, die hier zunächst in Frage kommt) ist an sich, als
solcher, (abgesehen natürlich von den feineren Structurdifferenzen), nicht zu
unterscheiden von dem festen Aggregatzustande vollkommen durchfeuchteter
Mineralien, (z. B. Sandstein, Kalkstein), die lange in Wasser gelegen ha-
ben. Und dennoch geht dieser unzweifelhaft „feste“ Aggregatzustand eines
Knochens durch eine Reihenfolge der feinsten Uebergangsstufen ganz all-
mählig in den unzweifelhaft „festflüssigen“, d. h. gequollenen Zustand des
Knorpels, der Sehne u. s. w. über. In gleicher Weise sind die unzweifel-
haft „festen“ und bloss durchfeuchteten Chitindecken z. B. der Abdominal-
segmente von Insecten durch eine ganz allmählige Stufenfolge der unmerk-

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[126/0165] Organismen und Anorgane. stoff-Verbindungen, gleichwie in ihrer complicirteren Zusammensetzung aus verwickelten Atomgruppen (welche wahrscheinlich eng mit der Quellungsfähigkeit zusammenhängt) eine der wichtigsten Grundursachen des Lebens zu finden. Es wird daher zur Begründung unserer monisti- schen Lebens-Beurtheilung hier gestattet sein, bei dem Fundamental- Phaenomen der Imbibition noch etwas zu verweilen, zumal auch für die Form der Organismen dieser vierte Aggregatzustand von der grössten Bedeutung ist. Da eine eigentliche Quellung oder Imbibition bei den Anorganen nie- mals vorkommt, so entsteht die Frage, ob hier ähnliche Modificationen der ersten drei Aggregatzustände vorkommen, welche der Imbibition in einigen Beziehungen gleichen. Hier tritt uns nun einerseits das Phaenomen der Tränkung oder Durchfeuchtung (Humidation), andererseits die Er- scheinung der Lösung oder Auflösung (Solution) entgegen. Bei der Durchfeuchtung oder Humidation sehen wir Flüssigkeit in die Poren fester Körper eindringen, ohne dass eine wirkliche Imbibition und Quellung der- selben stattfindet. Das ist z. B. der Fall bei Steinen (und zwar nicht nur bei auffallend „porösen“, sondern auch bei den scheinbar dichtesten und festesten Gesteinarten), welche längere Zeit auf dem Grunde des Meeres gelegen haben. So wenig diese Durchfeuchtung den festen Aggregatzu- stand der Anorgane und damit ihr Volum zu ändern vermag, so wenig werden diese geändert, wenn die beträchtliche Menge der eingedrungenen Flüssigkeit durch Austrocknen wieder entfernt wird. Niemals kann daher auch die vollständigste Durchfeuchtung eine solche Beweglichkeit der Moleküle und damit eine solche Formveränderlichkeit der festen Körper herbeiführen, wie sie durch die Quellung gegeben wird. Andererseits aber ist hervorzuheben, dass bei den organischen Körpertheilen zwischen den höchsten Graden der Durchfeuchtung und den niedersten Graden der Quel- lung ein ganz allmähliger und unmerklicher Uebergang stattfindet, und wir können diesen Uebergang oft an einem und demselben Theile eines Or- ganismus in continuo verfolgen. Insbesondere ist in dieser Beziehung eine Vergleichung continuirlich zusammenhängender Skelettheile von Interesse, und zwar gilt dies sowohl von den inneren, der Bindegewebsgruppe ange- hörigen Skelettheilen der Wirbelthiere, als von den äusseren, zu den Chitin- ausscheidungen zu rechnenden Skelettheilen der Gliederthiere. Der Aggre- gatzustand eines Knochens, (und zwar speciell der Intercellular- oder Grund- substanz des Knochens, die hier zunächst in Frage kommt) ist an sich, als solcher, (abgesehen natürlich von den feineren Structurdifferenzen), nicht zu unterscheiden von dem festen Aggregatzustande vollkommen durchfeuchteter Mineralien, (z. B. Sandstein, Kalkstein), die lange in Wasser gelegen ha- ben. Und dennoch geht dieser unzweifelhaft „feste“ Aggregatzustand eines Knochens durch eine Reihenfolge der feinsten Uebergangsstufen ganz all- mählig in den unzweifelhaft „festflüssigen“, d. h. gequollenen Zustand des Knorpels, der Sehne u. s. w. über. In gleicher Weise sind die unzweifel- haft „festen“ und bloss durchfeuchteten Chitindecken z. B. der Abdominal- segmente von Insecten durch eine ganz allmählige Stufenfolge der unmerk-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/165>, abgerufen am 25.11.2024.