Wenn wir alle die unendlich verschiedenen und mannichfaltigen Ansichten vergleichend in Erwähnung ziehen, welche von denkenden Menschen aller Zeiten über die erste Entstehung des Lebens auf der Erde aufgestellt worden sind, so können wir sie allesammt in zwei schroff gegenüberstehende Gruppen bringen, deren Losungswort Schöpfung und Urzeugung ist. Bei weitem die grössere Mehrzahl aller jener Ansichten ist dualistisch und glaubt an eine Schöpfung, d. h. an eine Entstehung der ersten lebendigen Wesen durch eine ausserhalb der Materie befindliche, zweckmässig wirkende Kraft. Nur verhältnissmässig wenige Ansichten sind monistisch und nehmen eine Urzeugung an, d. h. eine erste Entstehung lebendiger Körper durch die ureigenen, der Materie inne wohnenden, mit absoluter Nothwen- digkeit gesetzlich wirkenden Kräfte.
Die vielen verschiedenartigen Schöpfungs-Theorieen weichen hauptsächlich darin von einander ab, dass die einen einen individuellen Schöpfungsakt für jeden einzelnen Organismus, die anderen einen be- sonderen Schöpfungsakt für jede "Species" (aus der sich ihre Nach- kommen durch natürliche Fortpflanzung entwickeln), die dritten endlich eine Schöpfung nur für jene einfachsten Urorganismen fordern, aus denen sich alle übrigen "Species", gemäss der Descendenz-Theorie, allmählig entwickelt haben. Von diesen drei verschiedenen Ansichten brauchen wir blos die letzte hier zu discutiren. Denn die erste An- nahme, dass jeder individuelle Organismus (z. B. jeder einzelne Tannenbaum, jede einzelne Diatomee, jede einzelne Stubenfliege, jeder einzelne Mensch) für sich vom Schöpfer besonders erschaffen sei, ist zwar unter den Menschenkindern (auch den sogenannten "Gebildeten") noch sehr weit verbreitet, widerspricht aber so sehr den einfachsten und allgemeinsten naturwissenschaftlichen Erfahrungen, dass sie von keinem einzigen wahren Naturforscher mehr vertheidigt wird. Nicht so ist es mit der zweiten oben angeführten, übrigens nicht minder un- wissenschaftlichen Ansicht, dass jede sogenannte "Species oder Art" einem besonderen Schöpfungsakt ihre Entstehung verdanke, dass also von jeder Species einmal eines oder mehrere Individuen geschaffen worden sind, von denen alle übrigen auf dem Wege natürlicher Fort- pflanzung erzeugt worden sind. Diese auch unter den Naturforschern noch weit verbreitete und gewöhnlich mit dem absurden Species-Dogma verkettete Ansicht bedarf hier ebenfalls keiner Widerlegung, da wir unten die Species selbst als eine ganz willkührliche und künstliche Abstraction, und die Vorstellung ihrer absoluten Constanz als ganz unhaltbar nachweisen werden. Wir haben also nur noch die letzte (auch von Darwin getheilte) Schöpfungs-Hypothese zu widerlegen,
Schöpfung und Selbstzeugung.
II. Schöpfung.
Wenn wir alle die unendlich verschiedenen und mannichfaltigen Ansichten vergleichend in Erwähnung ziehen, welche von denkenden Menschen aller Zeiten über die erste Entstehung des Lebens auf der Erde aufgestellt worden sind, so können wir sie allesammt in zwei schroff gegenüberstehende Gruppen bringen, deren Losungswort Schöpfung und Urzeugung ist. Bei weitem die grössere Mehrzahl aller jener Ansichten ist dualistisch und glaubt an eine Schöpfung, d. h. an eine Entstehung der ersten lebendigen Wesen durch eine ausserhalb der Materie befindliche, zweckmässig wirkende Kraft. Nur verhältnissmässig wenige Ansichten sind monistisch und nehmen eine Urzeugung an, d. h. eine erste Entstehung lebendiger Körper durch die ureigenen, der Materie inne wohnenden, mit absoluter Nothwen- digkeit gesetzlich wirkenden Kräfte.
Die vielen verschiedenartigen Schöpfungs-Theorieen weichen hauptsächlich darin von einander ab, dass die einen einen individuellen Schöpfungsakt für jeden einzelnen Organismus, die anderen einen be- sonderen Schöpfungsakt für jede „Species“ (aus der sich ihre Nach- kommen durch natürliche Fortpflanzung entwickeln), die dritten endlich eine Schöpfung nur für jene einfachsten Urorganismen fordern, aus denen sich alle übrigen „Species“, gemäss der Descendenz-Theorie, allmählig entwickelt haben. Von diesen drei verschiedenen Ansichten brauchen wir blos die letzte hier zu discutiren. Denn die erste An- nahme, dass jeder individuelle Organismus (z. B. jeder einzelne Tannenbaum, jede einzelne Diatomee, jede einzelne Stubenfliege, jeder einzelne Mensch) für sich vom Schöpfer besonders erschaffen sei, ist zwar unter den Menschenkindern (auch den sogenannten „Gebildeten“) noch sehr weit verbreitet, widerspricht aber so sehr den einfachsten und allgemeinsten naturwissenschaftlichen Erfahrungen, dass sie von keinem einzigen wahren Naturforscher mehr vertheidigt wird. Nicht so ist es mit der zweiten oben angeführten, übrigens nicht minder un- wissenschaftlichen Ansicht, dass jede sogenannte „Species oder Art“ einem besonderen Schöpfungsakt ihre Entstehung verdanke, dass also von jeder Species einmal eines oder mehrere Individuen geschaffen worden sind, von denen alle übrigen auf dem Wege natürlicher Fort- pflanzung erzeugt worden sind. Diese auch unter den Naturforschern noch weit verbreitete und gewöhnlich mit dem absurden Species-Dogma verkettete Ansicht bedarf hier ebenfalls keiner Widerlegung, da wir unten die Species selbst als eine ganz willkührliche und künstliche Abstraction, und die Vorstellung ihrer absoluten Constanz als ganz unhaltbar nachweisen werden. Wir haben also nur noch die letzte (auch von Darwin getheilte) Schöpfungs-Hypothese zu widerlegen,
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Schöpfung und Selbstzeugung.
II. Schöpfung.
Wenn wir alle die unendlich verschiedenen und mannichfaltigen
Ansichten vergleichend in Erwähnung ziehen, welche von denkenden
Menschen aller Zeiten über die erste Entstehung des Lebens auf der
Erde aufgestellt worden sind, so können wir sie allesammt in zwei
schroff gegenüberstehende Gruppen bringen, deren Losungswort
Schöpfung und Urzeugung ist. Bei weitem die grössere Mehrzahl
aller jener Ansichten ist dualistisch und glaubt an eine Schöpfung,
d. h. an eine Entstehung der ersten lebendigen Wesen durch eine
ausserhalb der Materie befindliche, zweckmässig wirkende Kraft. Nur
verhältnissmässig wenige Ansichten sind monistisch und nehmen eine
Urzeugung an, d. h. eine erste Entstehung lebendiger Körper durch
die ureigenen, der Materie inne wohnenden, mit absoluter Nothwen-
digkeit gesetzlich wirkenden Kräfte.
Die vielen verschiedenartigen Schöpfungs-Theorieen weichen
hauptsächlich darin von einander ab, dass die einen einen individuellen
Schöpfungsakt für jeden einzelnen Organismus, die anderen einen be-
sonderen Schöpfungsakt für jede „Species“ (aus der sich ihre Nach-
kommen durch natürliche Fortpflanzung entwickeln), die dritten endlich
eine Schöpfung nur für jene einfachsten Urorganismen fordern, aus
denen sich alle übrigen „Species“, gemäss der Descendenz-Theorie,
allmählig entwickelt haben. Von diesen drei verschiedenen Ansichten
brauchen wir blos die letzte hier zu discutiren. Denn die erste An-
nahme, dass jeder individuelle Organismus (z. B. jeder einzelne
Tannenbaum, jede einzelne Diatomee, jede einzelne Stubenfliege, jeder
einzelne Mensch) für sich vom Schöpfer besonders erschaffen sei, ist
zwar unter den Menschenkindern (auch den sogenannten „Gebildeten“)
noch sehr weit verbreitet, widerspricht aber so sehr den einfachsten
und allgemeinsten naturwissenschaftlichen Erfahrungen, dass sie von
keinem einzigen wahren Naturforscher mehr vertheidigt wird. Nicht
so ist es mit der zweiten oben angeführten, übrigens nicht minder un-
wissenschaftlichen Ansicht, dass jede sogenannte „Species oder Art“
einem besonderen Schöpfungsakt ihre Entstehung verdanke, dass also
von jeder Species einmal eines oder mehrere Individuen geschaffen
worden sind, von denen alle übrigen auf dem Wege natürlicher Fort-
pflanzung erzeugt worden sind. Diese auch unter den Naturforschern
noch weit verbreitete und gewöhnlich mit dem absurden Species-Dogma
verkettete Ansicht bedarf hier ebenfalls keiner Widerlegung, da wir
unten die Species selbst als eine ganz willkührliche und künstliche
Abstraction, und die Vorstellung ihrer absoluten Constanz als ganz
unhaltbar nachweisen werden. Wir haben also nur noch die letzte
(auch von Darwin getheilte) Schöpfungs-Hypothese zu widerlegen,
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/209>, abgerufen am 28.11.2024.
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