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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Unterscheidung von Thier und Pflanze.
absolute und ohne allmählige Uebergänge bestehende, als die Unterschiede
zwischen den "Species" und zwischen allen übrigen künstlichen Kategorieen
seines Systems. Das Wesen der "Seele," welche die Thiere von den Pflan-
zen absolut unterscheiden sollte, setzte er in die Empfindung und die will-
kührliche Bewegung.1) Die Nachfolger Linnes, die meist gedankenlosen
und dem Species-Dogma ergebenen Schulen der botanischen und zoologi-
schen Systematiker hielten diese falschen Vorstellungen bis in die neueste
Zeit hinein fest. Erheblichere Zweifel gegen dieselben wurden erst laut,
als man sich im vierten und fünften Decennium unseres Jahrhunderts mit
den sehr verbesserten Mikroskopen eifrig und vielseitig dem Studium jener
zahllosen niederen Organismen zuwendete, welche als bewegliche, dem blos-
sen Auge unsichtbare Körperchen alle süssen und salzigen Gewässer be-
völkern. Unter diesen fand sich nun bald eine grosse Anzahl, welche in
einigen Characteren der Form und der Lebenserscheinungen an die Thiere,
in anderen an die Pflanzen sich anschloss; viele derselben vereinigten thieri-
sche und pflanzliche Charactere in einer so zweideutigen Weise, dass es
geradezu unmöglich wurde, sie mit nur einiger Sicherheit dem einen oder
anderen organischen Reiche zuzutheilen. Indem die einen Systematiker die-
selben Formen mit Bestimmtheit als Pflanzen betrachteten, welche von An-
deren ebenso bestimmt für Thiere erklärt wurden, entspannen sich bei Vielen
sehr begründete Zweifel über die Vollgültigkeit der bisher allgemein ange-
nommenen unterscheidenden Charactere. Einige kamen zu der Ueberzeugung,
dass es nur darauf ankomme, neue und fester begründete Charactere aufzu-
finden, um die sicher vorhandene reale Grenze zwischen Pflanzen- und Thier-
Reich scharf zu präcisiren, während Andere vielmehr an dieser Grenze
selbst irre wurden und behaupteten, dass beide Reiche unmittelbar in ein-
ander übergingen, und zusammen ein einziges grosses Reich der Organis-
men bildeten.

Es wurden nun im Laufe der beiden letzten Decennien, sowohl von
Botanikern als von Zoologen zahlreiche Versuche gemacht, theils absolut
unterscheidende Kriterien zwischen den Thieren und Pflanzen aufzufinden,
theils die Continuität beider Reiche zu beweisen. Wir haben hier weder
Raum noch Veranlassung, auf alle diese einzelnen sehr divergenten Ansich-
ten, die meistens gelegentlich bei Besprechung einer zweifelhaften Gruppe
geäussert wurden, einzugehen, und begnügen uns, auf diejenigen Arbeiten
zu verweisen, welche in den letzten Jahren die Frage am ausführlichsten
behandelt haben.2) Die Monographen einzelner zweifelhafter Gruppen,
z. B. der Schwämme, Myxomyceten, Flagellaten, Diatomeen etc. waren
übrigens gewöhnlich vorzugsweise bestrebt, einen einzelnen unterschei-
denden Character (insbesondere den der Beseelung, der Empfindung, der

1) "Vegetabilia vivunt, non sentiunt. Animalia vivunt et sentiunt sponteque
se movent." Linne, Systema naturae.
2) C. Gegenbaur, De animalium plantarumque regni terminis et differen-
tiis. Jenae 1860. E. Haeckel, Monographie der Radiolarien. Berlin 1862
(p. 159--165). C. Claus, Ueber die Grenze des thierischen und pflanzlichen
Lebens. Leipzig 1863.
Haeckel, Generelle Morphologie. 13

I. Unterscheidung von Thier und Pflanze.
absolute und ohne allmählige Uebergänge bestehende, als die Unterschiede
zwischen den „Species“ und zwischen allen übrigen künstlichen Kategorieen
seines Systems. Das Wesen der „Seele,“ welche die Thiere von den Pflan-
zen absolut unterscheiden sollte, setzte er in die Empfindung und die will-
kührliche Bewegung.1) Die Nachfolger Linnés, die meist gedankenlosen
und dem Species-Dogma ergebenen Schulen der botanischen und zoologi-
schen Systematiker hielten diese falschen Vorstellungen bis in die neueste
Zeit hinein fest. Erheblichere Zweifel gegen dieselben wurden erst laut,
als man sich im vierten und fünften Decennium unseres Jahrhunderts mit
den sehr verbesserten Mikroskopen eifrig und vielseitig dem Studium jener
zahllosen niederen Organismen zuwendete, welche als bewegliche, dem blos-
sen Auge unsichtbare Körperchen alle süssen und salzigen Gewässer be-
völkern. Unter diesen fand sich nun bald eine grosse Anzahl, welche in
einigen Characteren der Form und der Lebenserscheinungen an die Thiere,
in anderen an die Pflanzen sich anschloss; viele derselben vereinigten thieri-
sche und pflanzliche Charactere in einer so zweideutigen Weise, dass es
geradezu unmöglich wurde, sie mit nur einiger Sicherheit dem einen oder
anderen organischen Reiche zuzutheilen. Indem die einen Systematiker die-
selben Formen mit Bestimmtheit als Pflanzen betrachteten, welche von An-
deren ebenso bestimmt für Thiere erklärt wurden, entspannen sich bei Vielen
sehr begründete Zweifel über die Vollgültigkeit der bisher allgemein ange-
nommenen unterscheidenden Charactere. Einige kamen zu der Ueberzeugung,
dass es nur darauf ankomme, neue und fester begründete Charactere aufzu-
finden, um die sicher vorhandene reale Grenze zwischen Pflanzen- und Thier-
Reich scharf zu präcisiren, während Andere vielmehr an dieser Grenze
selbst irre wurden und behaupteten, dass beide Reiche unmittelbar in ein-
ander übergingen, und zusammen ein einziges grosses Reich der Organis-
men bildeten.

Es wurden nun im Laufe der beiden letzten Decennien, sowohl von
Botanikern als von Zoologen zahlreiche Versuche gemacht, theils absolut
unterscheidende Kriterien zwischen den Thieren und Pflanzen aufzufinden,
theils die Continuität beider Reiche zu beweisen. Wir haben hier weder
Raum noch Veranlassung, auf alle diese einzelnen sehr divergenten Ansich-
ten, die meistens gelegentlich bei Besprechung einer zweifelhaften Gruppe
geäussert wurden, einzugehen, und begnügen uns, auf diejenigen Arbeiten
zu verweisen, welche in den letzten Jahren die Frage am ausführlichsten
behandelt haben.2) Die Monographen einzelner zweifelhafter Gruppen,
z. B. der Schwämme, Myxomyceten, Flagellaten, Diatomeen etc. waren
übrigens gewöhnlich vorzugsweise bestrebt, einen einzelnen unterschei-
denden Character (insbesondere den der Beseelung, der Empfindung, der

1) „Vegetabilia vivunt, non sentiunt. Animalia vivunt et sentiunt sponteque
se movent.“ Linné, Systema naturae.
2) C. Gegenbaur, De animalium plantarumque regni terminis et differen-
tiis. Jenae 1860. E. Haeckel, Monographie der Radiolarien. Berlin 1862
(p. 159—165). C. Claus, Ueber die Grenze des thierischen und pflanzlichen
Lebens. Leipzig 1863.
Haeckel, Generelle Morphologie. 13
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[193/0232] I. Unterscheidung von Thier und Pflanze. absolute und ohne allmählige Uebergänge bestehende, als die Unterschiede zwischen den „Species“ und zwischen allen übrigen künstlichen Kategorieen seines Systems. Das Wesen der „Seele,“ welche die Thiere von den Pflan- zen absolut unterscheiden sollte, setzte er in die Empfindung und die will- kührliche Bewegung. 1) Die Nachfolger Linnés, die meist gedankenlosen und dem Species-Dogma ergebenen Schulen der botanischen und zoologi- schen Systematiker hielten diese falschen Vorstellungen bis in die neueste Zeit hinein fest. Erheblichere Zweifel gegen dieselben wurden erst laut, als man sich im vierten und fünften Decennium unseres Jahrhunderts mit den sehr verbesserten Mikroskopen eifrig und vielseitig dem Studium jener zahllosen niederen Organismen zuwendete, welche als bewegliche, dem blos- sen Auge unsichtbare Körperchen alle süssen und salzigen Gewässer be- völkern. Unter diesen fand sich nun bald eine grosse Anzahl, welche in einigen Characteren der Form und der Lebenserscheinungen an die Thiere, in anderen an die Pflanzen sich anschloss; viele derselben vereinigten thieri- sche und pflanzliche Charactere in einer so zweideutigen Weise, dass es geradezu unmöglich wurde, sie mit nur einiger Sicherheit dem einen oder anderen organischen Reiche zuzutheilen. Indem die einen Systematiker die- selben Formen mit Bestimmtheit als Pflanzen betrachteten, welche von An- deren ebenso bestimmt für Thiere erklärt wurden, entspannen sich bei Vielen sehr begründete Zweifel über die Vollgültigkeit der bisher allgemein ange- nommenen unterscheidenden Charactere. Einige kamen zu der Ueberzeugung, dass es nur darauf ankomme, neue und fester begründete Charactere aufzu- finden, um die sicher vorhandene reale Grenze zwischen Pflanzen- und Thier- Reich scharf zu präcisiren, während Andere vielmehr an dieser Grenze selbst irre wurden und behaupteten, dass beide Reiche unmittelbar in ein- ander übergingen, und zusammen ein einziges grosses Reich der Organis- men bildeten. Es wurden nun im Laufe der beiden letzten Decennien, sowohl von Botanikern als von Zoologen zahlreiche Versuche gemacht, theils absolut unterscheidende Kriterien zwischen den Thieren und Pflanzen aufzufinden, theils die Continuität beider Reiche zu beweisen. Wir haben hier weder Raum noch Veranlassung, auf alle diese einzelnen sehr divergenten Ansich- ten, die meistens gelegentlich bei Besprechung einer zweifelhaften Gruppe geäussert wurden, einzugehen, und begnügen uns, auf diejenigen Arbeiten zu verweisen, welche in den letzten Jahren die Frage am ausführlichsten behandelt haben. 2) Die Monographen einzelner zweifelhafter Gruppen, z. B. der Schwämme, Myxomyceten, Flagellaten, Diatomeen etc. waren übrigens gewöhnlich vorzugsweise bestrebt, einen einzelnen unterschei- denden Character (insbesondere den der Beseelung, der Empfindung, der 1) „Vegetabilia vivunt, non sentiunt. Animalia vivunt et sentiunt sponteque se movent.“ Linné, Systema naturae. 2) C. Gegenbaur, De animalium plantarumque regni terminis et differen- tiis. Jenae 1860. E. Haeckel, Monographie der Radiolarien. Berlin 1862 (p. 159—165). C. Claus, Ueber die Grenze des thierischen und pflanzlichen Lebens. Leipzig 1863. Haeckel, Generelle Morphologie. 13

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/232>, abgerufen am 17.05.2024.