Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.Thiere und Pflanzen. Willensbewegung) als bestimmend für die Natur der Gruppe nachzuweisen;die Consequenzen dieser Anwendung für alle zweifelhaften Mittelformen wurden aber von ihnen nicht gezogen. Theils dieser mangelnden Conse- quenz, theils der ungenügenden Vergleichung und unkritischen Wägung der unterscheidenden Charactere, theils aber auch den im Gegenstande selbst liegenden Hindernissen ist es zuzuschreiben, dass im gegenwärtigen Zeit- punkt eine Einigung über die Streitfrage nicht im Mindesten erzielt ist, dass vielmehr die Meinungen der einzelnen Systematiker über die Stellung der zweifelhaften Gruppen nicht weniger, als früher aus einander gehen. Nachdem die Unmöglichkeit, die gewöhnlich in erster Linie benutzten physiologischen Kriterien der Empfindung und der willkührlichen Be- wegung zu einer absoluten Unterscheidung der Thiere und Pflanzen zu ver- werthen, hinreichend dargethan war, versuchte man neuerdings die schärfer zu bestimmenden morphologischen Charactere als entscheidende für die Definition der beiden Reiche zu benutzen. Insbesondere hob zuerst Gegen- baur hervor, dass in der feineren Structur des thierischen und pflanzlichen Lei- bes allgemeine Unterschiede zu finden seien, welche wenigstens eine scharfe Definition der beiden Reiche gestatten, und wir selbst haben späterhin diese Ansicht noch weiter entwickelt und durch neue Gründe zu stützen gesucht. Indess hat sich unsere Ansicht keine weitere Geltung erringen können, und man hat sie auch insofern missverstanden, als man glaubte, dass wir durch Aufstellung dieses Differentialcharacters eine absolute Differenz zwischen dem Thier- und Pflanzenreiche überhaupt zu begründen suchten, während wir doch nur eine gleiche künstliche Definition der Gruppen zu geben wünschten, wie sie für jede grössere und kleinere Gruppe des Thier- und Pflanzenreichs zur praktischen Unterscheidung, und zur Begriffsbe- stimmung unentbehrlich ist.1) Für letzteren Zweck ist nun gewiss der von uns besonders hervorgehobene Character sehr wichtig, dass bei den Pflanzen die Zelle allgemein eine weit grössere Selbstständigkeit behält, als bei den Thieren. Wir wollen indess auch auf diese Verhältnisse hier nicht weiter ein- 1) Sowohl Gegenbaur, als ich selbst, haben ausdrücklich erklärt, dass wir
keine absolute Verschiedenheit zwischen Thier- und Pflanzen- Reich anerkennen, und dass wir den Versuch, ein morphologisches Unterschei- dungs-Merkmal aufzustellen, in demselben Sinne wie jede systematische Einthei- lung, d. h. als eine künstliche, aber praktisch unentbehrliche Grenzbestimmung ansehen und angesehen wissen wollen, so dass uns der mehrfach erhobene Vor- wurf nicht trifft, dogmatisch da eine absolute Grenze gesetzt zu haben, wo in der Natur keine vorhanden ist. Thiere und Pflanzen. Willensbewegung) als bestimmend für die Natur der Gruppe nachzuweisen;die Consequenzen dieser Anwendung für alle zweifelhaften Mittelformen wurden aber von ihnen nicht gezogen. Theils dieser mangelnden Conse- quenz, theils der ungenügenden Vergleichung und unkritischen Wägung der unterscheidenden Charactere, theils aber auch den im Gegenstande selbst liegenden Hindernissen ist es zuzuschreiben, dass im gegenwärtigen Zeit- punkt eine Einigung über die Streitfrage nicht im Mindesten erzielt ist, dass vielmehr die Meinungen der einzelnen Systematiker über die Stellung der zweifelhaften Gruppen nicht weniger, als früher aus einander gehen. Nachdem die Unmöglichkeit, die gewöhnlich in erster Linie benutzten physiologischen Kriterien der Empfindung und der willkührlichen Be- wegung zu einer absoluten Unterscheidung der Thiere und Pflanzen zu ver- werthen, hinreichend dargethan war, versuchte man neuerdings die schärfer zu bestimmenden morphologischen Charactere als entscheidende für die Definition der beiden Reiche zu benutzen. Insbesondere hob zuerst Gegen- baur hervor, dass in der feineren Structur des thierischen und pflanzlichen Lei- bes allgemeine Unterschiede zu finden seien, welche wenigstens eine scharfe Definition der beiden Reiche gestatten, und wir selbst haben späterhin diese Ansicht noch weiter entwickelt und durch neue Gründe zu stützen gesucht. Indess hat sich unsere Ansicht keine weitere Geltung erringen können, und man hat sie auch insofern missverstanden, als man glaubte, dass wir durch Aufstellung dieses Differentialcharacters eine absolute Differenz zwischen dem Thier- und Pflanzenreiche überhaupt zu begründen suchten, während wir doch nur eine gleiche künstliche Definition der Gruppen zu geben wünschten, wie sie für jede grössere und kleinere Gruppe des Thier- und Pflanzenreichs zur praktischen Unterscheidung, und zur Begriffsbe- stimmung unentbehrlich ist.1) Für letzteren Zweck ist nun gewiss der von uns besonders hervorgehobene Character sehr wichtig, dass bei den Pflanzen die Zelle allgemein eine weit grössere Selbstständigkeit behält, als bei den Thieren. Wir wollen indess auch auf diese Verhältnisse hier nicht weiter ein- 1) Sowohl Gegenbaur, als ich selbst, haben ausdrücklich erklärt, dass wir
keine absolute Verschiedenheit zwischen Thier- und Pflanzen- Reich anerkennen, und dass wir den Versuch, ein morphologisches Unterschei- dungs-Merkmal aufzustellen, in demselben Sinne wie jede systematische Einthei- lung, d. h. als eine künstliche, aber praktisch unentbehrliche Grenzbestimmung ansehen und angesehen wissen wollen, so dass uns der mehrfach erhobene Vor- wurf nicht trifft, dogmatisch da eine absolute Grenze gesetzt zu haben, wo in der Natur keine vorhanden ist. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0233" n="194"/><fw place="top" type="header">Thiere und Pflanzen.</fw><lb/> Willensbewegung) als bestimmend für die Natur der Gruppe nachzuweisen;<lb/> die Consequenzen dieser Anwendung für <hi rendition="#g">alle</hi> zweifelhaften Mittelformen<lb/> wurden aber von ihnen nicht gezogen. Theils dieser mangelnden Conse-<lb/> quenz, theils der ungenügenden Vergleichung und unkritischen Wägung der<lb/> unterscheidenden Charactere, theils aber auch den im Gegenstande selbst<lb/> liegenden Hindernissen ist es zuzuschreiben, dass im gegenwärtigen Zeit-<lb/> punkt eine Einigung über die Streitfrage nicht im Mindesten erzielt ist,<lb/> dass vielmehr die Meinungen der einzelnen Systematiker über die Stellung<lb/> der zweifelhaften Gruppen nicht weniger, als früher aus einander gehen.<lb/> Nachdem die Unmöglichkeit, die gewöhnlich in erster Linie benutzten<lb/><hi rendition="#g">physiologischen</hi> Kriterien der Empfindung und der willkührlichen Be-<lb/> wegung zu einer absoluten Unterscheidung der Thiere und Pflanzen zu ver-<lb/> werthen, hinreichend dargethan war, versuchte man neuerdings die schärfer<lb/> zu bestimmenden <hi rendition="#g">morphologischen</hi> Charactere als entscheidende für die<lb/> Definition der beiden Reiche zu benutzen. Insbesondere hob zuerst <hi rendition="#g">Gegen-<lb/> baur</hi> hervor, dass in der feineren Structur des thierischen und pflanzlichen Lei-<lb/> bes allgemeine Unterschiede zu finden seien, welche wenigstens eine scharfe<lb/> Definition der beiden Reiche gestatten, und wir selbst haben späterhin diese<lb/> Ansicht noch weiter entwickelt und durch neue Gründe zu stützen gesucht.<lb/> Indess hat sich unsere Ansicht keine weitere Geltung erringen können, und<lb/> man hat sie auch insofern missverstanden, als man glaubte, dass wir durch<lb/> Aufstellung dieses Differentialcharacters eine absolute Differenz zwischen<lb/> dem Thier- und Pflanzenreiche überhaupt zu begründen suchten, während<lb/> wir doch nur eine gleiche <hi rendition="#g">künstliche</hi> Definition der Gruppen zu geben<lb/> wünschten, wie sie für jede grössere und kleinere Gruppe des Thier- und<lb/> Pflanzenreichs zur <hi rendition="#g">praktischen</hi> Unterscheidung, und zur <hi rendition="#g">Begriffsbe-<lb/> stimmung</hi> unentbehrlich ist.<note place="foot" n="1)">Sowohl <hi rendition="#g">Gegenbaur,</hi> als ich selbst, haben ausdrücklich erklärt, dass wir<lb/><hi rendition="#g">keine absolute Verschiedenheit zwischen Thier- und Pflanzen-</hi><lb/> Reich anerkennen, und dass wir den Versuch, ein morphologisches Unterschei-<lb/> dungs-Merkmal aufzustellen, in demselben Sinne wie jede systematische Einthei-<lb/> lung, d. h. als eine künstliche, aber praktisch unentbehrliche Grenzbestimmung<lb/> ansehen und angesehen wissen wollen, so dass uns der mehrfach erhobene Vor-<lb/> wurf nicht trifft, dogmatisch da eine absolute Grenze gesetzt zu haben, wo in<lb/> der Natur keine vorhanden ist.</note> Für letzteren Zweck ist nun gewiss der<lb/> von uns besonders hervorgehobene Character sehr wichtig, dass bei den<lb/> Pflanzen die Zelle allgemein eine weit grössere Selbstständigkeit behält, als<lb/> bei den Thieren.</p><lb/> <p>Wir wollen indess auch auf diese Verhältnisse hier nicht weiter ein-<lb/> gehen, da wir inzwischen zu der Ueberzeugung gelangt sind, dass sich die<lb/> Frage nur von dem Standpunkte der Descendenz-Theorie aus naturgemäss<lb/> beantworten lässt, und diese Beantwortung ist es, die wir hier zunächst<lb/> versuchen wollen. Wir werden dabei zunächst die Bedeutung zu erwägen<lb/> haben, welche die Eintheilung der Organismen in Thiere und Pflanzen, und<lb/> die weitere Eintheilung derselben in Kreise, Klassen, Ordnungen und an-<lb/> dere untergeordnete Systemgruppen überhaupt besitzt.</p> </div><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [194/0233]
Thiere und Pflanzen.
Willensbewegung) als bestimmend für die Natur der Gruppe nachzuweisen;
die Consequenzen dieser Anwendung für alle zweifelhaften Mittelformen
wurden aber von ihnen nicht gezogen. Theils dieser mangelnden Conse-
quenz, theils der ungenügenden Vergleichung und unkritischen Wägung der
unterscheidenden Charactere, theils aber auch den im Gegenstande selbst
liegenden Hindernissen ist es zuzuschreiben, dass im gegenwärtigen Zeit-
punkt eine Einigung über die Streitfrage nicht im Mindesten erzielt ist,
dass vielmehr die Meinungen der einzelnen Systematiker über die Stellung
der zweifelhaften Gruppen nicht weniger, als früher aus einander gehen.
Nachdem die Unmöglichkeit, die gewöhnlich in erster Linie benutzten
physiologischen Kriterien der Empfindung und der willkührlichen Be-
wegung zu einer absoluten Unterscheidung der Thiere und Pflanzen zu ver-
werthen, hinreichend dargethan war, versuchte man neuerdings die schärfer
zu bestimmenden morphologischen Charactere als entscheidende für die
Definition der beiden Reiche zu benutzen. Insbesondere hob zuerst Gegen-
baur hervor, dass in der feineren Structur des thierischen und pflanzlichen Lei-
bes allgemeine Unterschiede zu finden seien, welche wenigstens eine scharfe
Definition der beiden Reiche gestatten, und wir selbst haben späterhin diese
Ansicht noch weiter entwickelt und durch neue Gründe zu stützen gesucht.
Indess hat sich unsere Ansicht keine weitere Geltung erringen können, und
man hat sie auch insofern missverstanden, als man glaubte, dass wir durch
Aufstellung dieses Differentialcharacters eine absolute Differenz zwischen
dem Thier- und Pflanzenreiche überhaupt zu begründen suchten, während
wir doch nur eine gleiche künstliche Definition der Gruppen zu geben
wünschten, wie sie für jede grössere und kleinere Gruppe des Thier- und
Pflanzenreichs zur praktischen Unterscheidung, und zur Begriffsbe-
stimmung unentbehrlich ist. 1) Für letzteren Zweck ist nun gewiss der
von uns besonders hervorgehobene Character sehr wichtig, dass bei den
Pflanzen die Zelle allgemein eine weit grössere Selbstständigkeit behält, als
bei den Thieren.
Wir wollen indess auch auf diese Verhältnisse hier nicht weiter ein-
gehen, da wir inzwischen zu der Ueberzeugung gelangt sind, dass sich die
Frage nur von dem Standpunkte der Descendenz-Theorie aus naturgemäss
beantworten lässt, und diese Beantwortung ist es, die wir hier zunächst
versuchen wollen. Wir werden dabei zunächst die Bedeutung zu erwägen
haben, welche die Eintheilung der Organismen in Thiere und Pflanzen, und
die weitere Eintheilung derselben in Kreise, Klassen, Ordnungen und an-
dere untergeordnete Systemgruppen überhaupt besitzt.
1) Sowohl Gegenbaur, als ich selbst, haben ausdrücklich erklärt, dass wir
keine absolute Verschiedenheit zwischen Thier- und Pflanzen-
Reich anerkennen, und dass wir den Versuch, ein morphologisches Unterschei-
dungs-Merkmal aufzustellen, in demselben Sinne wie jede systematische Einthei-
lung, d. h. als eine künstliche, aber praktisch unentbehrliche Grenzbestimmung
ansehen und angesehen wissen wollen, so dass uns der mehrfach erhobene Vor-
wurf nicht trifft, dogmatisch da eine absolute Grenze gesetzt zu haben, wo in
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