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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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II. Bedeutung der Systemgruppen.
II. Bedeutung der Systemgruppen.

Die beiden Hauptgruppen oder "Reiche" der Organismen, Thiere
und Pflanzen, pflegt man allgemein, wie im gewöhnlichen Leben so
auch in der biologischen Wissenschaft, als die beiden einzigen obersten,
einander coordinirten Hauptgruppen der Lebewesen zu betrachten, und
diese Anschauung hat schon seit sehr langer Zeit ihren Ausdruck in
dem allgemeinen wissenschaftlichen Bewusstsein dadurch gefunden,
dass man Zoologie und Phytologie (Botanik) als die beiden coordinir-
ten Hauptzweige der Biologie betrachtet, sobald man als Eintheilungs-
princip der letzteren die Verschiedenheit in der Organisation der
Hauptgruppen benutzt.

Es wird nun allgemein in den Systemen der classificirenden Bio-
logen oder der Systematiker jedes der beiden Reiche wieder in
Unterreiche oder Kreise (Subregna, Orbes, Typi) eingetheilt; diese
zerfallen weiter in mehrere kleinere Abtheilungen, die Klassen; ebenso
diese wieder in Ordnungen, die Ordnungen in Familien, die Familien
in Gattungen; endlich setzen sich die Gattungen aus den einzelnen
Arten (Species), Unterarten (Subspecies), Rassen, Varietäten oder Spiel-
arten zusammen. Alle diese subordinirten Kategorieen des Systems
sind künstliche Abstractionen, welche durch den Aehnlichkeitsgrad der
verglichenen concreten organischen Individuen bestimmt werden.
Mögen nun die künstlichen oder natürlichen Systeme noch so sehr
von einander verschieden sein, und mag man in diesen Systemen viele
oder wenige von solchen über einander geordneten Gruppen oder
Kategorieen unterscheiden, immer stimmen sie doch alle darin überein,
dass die allgemeinere und höhere Gruppenstufe oder Kategorie des
Systems (z. B. die Klasse, Ordnung) einen entfernteren und weiteren
Grad der Aehnlichkeit oder der "natürlichen Verwandtschaft" der dar-
unter zusammengefassten Organismen bezeichnet, während die niedri-
gere und beschränktere Gruppenstufe (z. B. Gattung, Art) einen näheren
und engeren Grad der "natürlichen Verwandtschaft" ausdrücken soll.

Was ist nun diese "natürliche Verwandtschaft" der Lebe-
wesen? Sie ist nichts Anderes und kann nichts Anderes sein, als die
wirkliche leibhaftige "Blutsverwandtschaft", der genealogische Zu-
sammenhang der Organismen. Die Gesammtheit aller grossen Er-
scheinungsreihen der organischen Natur weisst mit überwältigender
Macht darauf hin, und die Descendenz-Theorie, welche dieselben zu-
sammenfasst und aus dem genealogischen Gesichtspunkte einheitlich
erklärt, liefert dafür den schlagenden Beweis, wie wir im sechsten
Buche zeigen werden. Hier gehen wir von dieser bewiesenen Theorie
aus und betrachten also allgemein den systematischen Divergenz-

13*
II. Bedeutung der Systemgruppen.
II. Bedeutung der Systemgruppen.

Die beiden Hauptgruppen oder „Reiche“ der Organismen, Thiere
und Pflanzen, pflegt man allgemein, wie im gewöhnlichen Leben so
auch in der biologischen Wissenschaft, als die beiden einzigen obersten,
einander coordinirten Hauptgruppen der Lebewesen zu betrachten, und
diese Anschauung hat schon seit sehr langer Zeit ihren Ausdruck in
dem allgemeinen wissenschaftlichen Bewusstsein dadurch gefunden,
dass man Zoologie und Phytologie (Botanik) als die beiden coordinir-
ten Hauptzweige der Biologie betrachtet, sobald man als Eintheilungs-
princip der letzteren die Verschiedenheit in der Organisation der
Hauptgruppen benutzt.

Es wird nun allgemein in den Systemen der classificirenden Bio-
logen oder der Systematiker jedes der beiden Reiche wieder in
Unterreiche oder Kreise (Subregna, Orbes, Typi) eingetheilt; diese
zerfallen weiter in mehrere kleinere Abtheilungen, die Klassen; ebenso
diese wieder in Ordnungen, die Ordnungen in Familien, die Familien
in Gattungen; endlich setzen sich die Gattungen aus den einzelnen
Arten (Species), Unterarten (Subspecies), Rassen, Varietäten oder Spiel-
arten zusammen. Alle diese subordinirten Kategorieen des Systems
sind künstliche Abstractionen, welche durch den Aehnlichkeitsgrad der
verglichenen concreten organischen Individuen bestimmt werden.
Mögen nun die künstlichen oder natürlichen Systeme noch so sehr
von einander verschieden sein, und mag man in diesen Systemen viele
oder wenige von solchen über einander geordneten Gruppen oder
Kategorieen unterscheiden, immer stimmen sie doch alle darin überein,
dass die allgemeinere und höhere Gruppenstufe oder Kategorie des
Systems (z. B. die Klasse, Ordnung) einen entfernteren und weiteren
Grad der Aehnlichkeit oder der „natürlichen Verwandtschaft“ der dar-
unter zusammengefassten Organismen bezeichnet, während die niedri-
gere und beschränktere Gruppenstufe (z. B. Gattung, Art) einen näheren
und engeren Grad der „natürlichen Verwandtschaft“ ausdrücken soll.

Was ist nun diese „natürliche Verwandtschaft“ der Lebe-
wesen? Sie ist nichts Anderes und kann nichts Anderes sein, als die
wirkliche leibhaftige „Blutsverwandtschaft“, der genealogische Zu-
sammenhang der Organismen. Die Gesammtheit aller grossen Er-
scheinungsreihen der organischen Natur weisst mit überwältigender
Macht darauf hin, und die Descendenz-Theorie, welche dieselben zu-
sammenfasst und aus dem genealogischen Gesichtspunkte einheitlich
erklärt, liefert dafür den schlagenden Beweis, wie wir im sechsten
Buche zeigen werden. Hier gehen wir von dieser bewiesenen Theorie
aus und betrachten also allgemein den systematischen Divergenz-

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[195/0234] II. Bedeutung der Systemgruppen. II. Bedeutung der Systemgruppen. Die beiden Hauptgruppen oder „Reiche“ der Organismen, Thiere und Pflanzen, pflegt man allgemein, wie im gewöhnlichen Leben so auch in der biologischen Wissenschaft, als die beiden einzigen obersten, einander coordinirten Hauptgruppen der Lebewesen zu betrachten, und diese Anschauung hat schon seit sehr langer Zeit ihren Ausdruck in dem allgemeinen wissenschaftlichen Bewusstsein dadurch gefunden, dass man Zoologie und Phytologie (Botanik) als die beiden coordinir- ten Hauptzweige der Biologie betrachtet, sobald man als Eintheilungs- princip der letzteren die Verschiedenheit in der Organisation der Hauptgruppen benutzt. Es wird nun allgemein in den Systemen der classificirenden Bio- logen oder der Systematiker jedes der beiden Reiche wieder in Unterreiche oder Kreise (Subregna, Orbes, Typi) eingetheilt; diese zerfallen weiter in mehrere kleinere Abtheilungen, die Klassen; ebenso diese wieder in Ordnungen, die Ordnungen in Familien, die Familien in Gattungen; endlich setzen sich die Gattungen aus den einzelnen Arten (Species), Unterarten (Subspecies), Rassen, Varietäten oder Spiel- arten zusammen. Alle diese subordinirten Kategorieen des Systems sind künstliche Abstractionen, welche durch den Aehnlichkeitsgrad der verglichenen concreten organischen Individuen bestimmt werden. Mögen nun die künstlichen oder natürlichen Systeme noch so sehr von einander verschieden sein, und mag man in diesen Systemen viele oder wenige von solchen über einander geordneten Gruppen oder Kategorieen unterscheiden, immer stimmen sie doch alle darin überein, dass die allgemeinere und höhere Gruppenstufe oder Kategorie des Systems (z. B. die Klasse, Ordnung) einen entfernteren und weiteren Grad der Aehnlichkeit oder der „natürlichen Verwandtschaft“ der dar- unter zusammengefassten Organismen bezeichnet, während die niedri- gere und beschränktere Gruppenstufe (z. B. Gattung, Art) einen näheren und engeren Grad der „natürlichen Verwandtschaft“ ausdrücken soll. Was ist nun diese „natürliche Verwandtschaft“ der Lebe- wesen? Sie ist nichts Anderes und kann nichts Anderes sein, als die wirkliche leibhaftige „Blutsverwandtschaft“, der genealogische Zu- sammenhang der Organismen. Die Gesammtheit aller grossen Er- scheinungsreihen der organischen Natur weisst mit überwältigender Macht darauf hin, und die Descendenz-Theorie, welche dieselben zu- sammenfasst und aus dem genealogischen Gesichtspunkte einheitlich erklärt, liefert dafür den schlagenden Beweis, wie wir im sechsten Buche zeigen werden. Hier gehen wir von dieser bewiesenen Theorie aus und betrachten also allgemein den systematischen Divergenz- 13*

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/234>, abgerufen am 17.05.2024.