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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums.
Aesten und Zweigen bildet und in eine Masse von unbestimmt be-
grenzten peripherischen Theilen sich auflöst, deren jeder wieder so-
fort nach seiner Trennung von der Zelle zu einem einzelligen Indi-
viduum sich zu gestalten vermag.

So ist es denn gekommen, dass einige Botaniker in ihrem analy-
tischen Bestreben, die Pflanze als ein zusammengesetztes Aggregat
von Individuen nachzuweisen, auch nicht bei der Zelle stehen geblie-
ben sind, sondern nach weiteren Elementen gesucht haben, aus denen
die Zellen erst wieder zusammengesetzt seien, und welche die eigent-
lichen und letzten selbstständigen Individuen der Pflanzen repräsen-
tiren sollten. Schon Turpin sprach die Idee aus, dass diese eigent-
lichen "Urindividuen" der Pflanze die Kügelchen des Zellinhalts seien,
durch deren Aneinanderlegung die Zelle (als Individuum zweiter Ord-
nung) gebildet werden solle. Ebenso fasst Kützing die Zelle nicht
als Elementarform der Pflanze, sondern als eine complicirte Gestalt
auf, zusammengesetzt aus einfacheren Körpern, die er als "Molekular-
gewebe" zusammenfasst, und welche für sich allein gewisse Pflanzen
niedersten Ranges bilden sollen. Unger hält zwar die Zelle für das
eigentliche Elementar-Organ der Pflanze, unterscheidet aber in ihr
als kleinste "individualisirte" Körper noch Bläschen, Fasern, Kör-
ner etc. Ebenso erklärt auch Nägeli die Pflanzenzelle für einen com-
plicirten Organismus, der aus individuellen Theilen zusammengesetzt
ist, z. B. aus Stärkekörnern u. dergl mehr. 1)

Dass auch diese Auffassung ihre Begründung hat, ist nicht zu
bezweifeln. Die Zelle selbst kann in der That als selbstständiger
Organismus angesehen werden, und erscheint als solcher wiederum
aus Organen zusammengesetzt, aus verschiedenartigen Theilen, welche
zum Bestehen des Ganzen zusammenwirken. Mindestens zwei ver-
schiedenartige Theile sind an jeder echten Zelle zu irgend einer Zeit
ihres Lebens nachzuweisen, nämlich der innere Kern und das äussere,
diesen umschliessende Protoplasma. Diese beiden Fundamental-Organe
der Zelle sind aber selbst wieder aus Theilchen zusammengesetzt, und
diese letzteren könnten wir als die wirklichen elementaren Individuen
der Pflanze bezeichnen. Suchen wir diese näher zu bestimmen, so
können wir sie in Nichts Anderem finden, als in den physikalischen

1) In der seltsamsten Form ist eine ähnliche Idee von dem kürzlich ver-
storbenen Anatomen Mayer in Bonn ausgesprochen worden, welcher in seinen
"Supplementen zur Lehre vom Kreislauf" (1837, p. 49) die kleinsten Körnchen
des Zellinhalts (auf Grund ihrer Molecularbewegung) für thierisch-belebte Indivi-
duen (Biosphaeren) erklärt, welche die Pflanze als ihre Wohnung aufbauen.
"Den Hamadryaden gleich bewohnen diese sinnigen Monaden die geheimen
Hallen der Rindenpaläste, welche wir Pflanzen nennen, und feiern hier in stiller
Zucht ihre Tänze und ihre Orgien."

III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums.
Aesten und Zweigen bildet und in eine Masse von unbestimmt be-
grenzten peripherischen Theilen sich auflöst, deren jeder wieder so-
fort nach seiner Trennung von der Zelle zu einem einzelligen Indi-
viduum sich zu gestalten vermag.

So ist es denn gekommen, dass einige Botaniker in ihrem analy-
tischen Bestreben, die Pflanze als ein zusammengesetztes Aggregat
von Individuen nachzuweisen, auch nicht bei der Zelle stehen geblie-
ben sind, sondern nach weiteren Elementen gesucht haben, aus denen
die Zellen erst wieder zusammengesetzt seien, und welche die eigent-
lichen und letzten selbstständigen Individuen der Pflanzen repräsen-
tiren sollten. Schon Turpin sprach die Idee aus, dass diese eigent-
lichen „Urindividuen“ der Pflanze die Kügelchen des Zellinhalts seien,
durch deren Aneinanderlegung die Zelle (als Individuum zweiter Ord-
nung) gebildet werden solle. Ebenso fasst Kützing die Zelle nicht
als Elementarform der Pflanze, sondern als eine complicirte Gestalt
auf, zusammengesetzt aus einfacheren Körpern, die er als „Molekular-
gewebe“ zusammenfasst, und welche für sich allein gewisse Pflanzen
niedersten Ranges bilden sollen. Unger hält zwar die Zelle für das
eigentliche Elementar-Organ der Pflanze, unterscheidet aber in ihr
als kleinste „individualisirte“ Körper noch Bläschen, Fasern, Kör-
ner etc. Ebenso erklärt auch Nägeli die Pflanzenzelle für einen com-
plicirten Organismus, der aus individuellen Theilen zusammengesetzt
ist, z. B. aus Stärkekörnern u. dergl mehr. 1)

Dass auch diese Auffassung ihre Begründung hat, ist nicht zu
bezweifeln. Die Zelle selbst kann in der That als selbstständiger
Organismus angesehen werden, und erscheint als solcher wiederum
aus Organen zusammengesetzt, aus verschiedenartigen Theilen, welche
zum Bestehen des Ganzen zusammenwirken. Mindestens zwei ver-
schiedenartige Theile sind an jeder echten Zelle zu irgend einer Zeit
ihres Lebens nachzuweisen, nämlich der innere Kern und das äussere,
diesen umschliessende Protoplasma. Diese beiden Fundamental-Organe
der Zelle sind aber selbst wieder aus Theilchen zusammengesetzt, und
diese letzteren könnten wir als die wirklichen elementaren Individuen
der Pflanze bezeichnen. Suchen wir diese näher zu bestimmen, so
können wir sie in Nichts Anderem finden, als in den physikalischen

1) In der seltsamsten Form ist eine ähnliche Idee von dem kürzlich ver-
storbenen Anatomen Mayer in Bonn ausgesprochen worden, welcher in seinen
„Supplementen zur Lehre vom Kreislauf“ (1837, p. 49) die kleinsten Körnchen
des Zellinhalts (auf Grund ihrer Molecularbewegung) für thierisch-belebte Indivi-
duen (Biosphaeren) erklärt, welche die Pflanze als ihre Wohnung aufbauen.
„Den Hamadryaden gleich bewohnen diese sinnigen Monaden die geheimen
Hallen der Rindenpaläste, welche wir Pflanzen nennen, und feiern hier in stiller
Zucht ihre Tänze und ihre Orgien.“
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[249/0288] III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums. Aesten und Zweigen bildet und in eine Masse von unbestimmt be- grenzten peripherischen Theilen sich auflöst, deren jeder wieder so- fort nach seiner Trennung von der Zelle zu einem einzelligen Indi- viduum sich zu gestalten vermag. So ist es denn gekommen, dass einige Botaniker in ihrem analy- tischen Bestreben, die Pflanze als ein zusammengesetztes Aggregat von Individuen nachzuweisen, auch nicht bei der Zelle stehen geblie- ben sind, sondern nach weiteren Elementen gesucht haben, aus denen die Zellen erst wieder zusammengesetzt seien, und welche die eigent- lichen und letzten selbstständigen Individuen der Pflanzen repräsen- tiren sollten. Schon Turpin sprach die Idee aus, dass diese eigent- lichen „Urindividuen“ der Pflanze die Kügelchen des Zellinhalts seien, durch deren Aneinanderlegung die Zelle (als Individuum zweiter Ord- nung) gebildet werden solle. Ebenso fasst Kützing die Zelle nicht als Elementarform der Pflanze, sondern als eine complicirte Gestalt auf, zusammengesetzt aus einfacheren Körpern, die er als „Molekular- gewebe“ zusammenfasst, und welche für sich allein gewisse Pflanzen niedersten Ranges bilden sollen. Unger hält zwar die Zelle für das eigentliche Elementar-Organ der Pflanze, unterscheidet aber in ihr als kleinste „individualisirte“ Körper noch Bläschen, Fasern, Kör- ner etc. Ebenso erklärt auch Nägeli die Pflanzenzelle für einen com- plicirten Organismus, der aus individuellen Theilen zusammengesetzt ist, z. B. aus Stärkekörnern u. dergl mehr. 1) Dass auch diese Auffassung ihre Begründung hat, ist nicht zu bezweifeln. Die Zelle selbst kann in der That als selbstständiger Organismus angesehen werden, und erscheint als solcher wiederum aus Organen zusammengesetzt, aus verschiedenartigen Theilen, welche zum Bestehen des Ganzen zusammenwirken. Mindestens zwei ver- schiedenartige Theile sind an jeder echten Zelle zu irgend einer Zeit ihres Lebens nachzuweisen, nämlich der innere Kern und das äussere, diesen umschliessende Protoplasma. Diese beiden Fundamental-Organe der Zelle sind aber selbst wieder aus Theilchen zusammengesetzt, und diese letzteren könnten wir als die wirklichen elementaren Individuen der Pflanze bezeichnen. Suchen wir diese näher zu bestimmen, so können wir sie in Nichts Anderem finden, als in den physikalischen 1) In der seltsamsten Form ist eine ähnliche Idee von dem kürzlich ver- storbenen Anatomen Mayer in Bonn ausgesprochen worden, welcher in seinen „Supplementen zur Lehre vom Kreislauf“ (1837, p. 49) die kleinsten Körnchen des Zellinhalts (auf Grund ihrer Molecularbewegung) für thierisch-belebte Indivi- duen (Biosphaeren) erklärt, welche die Pflanze als ihre Wohnung aufbauen. „Den Hamadryaden gleich bewohnen diese sinnigen Monaden die geheimen Hallen der Rindenpaläste, welche wir Pflanzen nennen, und feiern hier in stiller Zucht ihre Tänze und ihre Orgien.“

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/288>, abgerufen am 24.11.2024.