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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Begriff und Aufgabe der Promorphologie.
der dynamischen Lebens-Processe eingeschlagen hat, wiederholt die
Nothwendigkeit ausgesprochen, dass auch die organische Morphologie
bei Untersuchung der statischen Lebens-Substrate, der organischen
Formen, denselben Weg verfolgen müsse. Indessen erschien diese
Forderung immer eben so leicht ausgesprochen, als schwer zu erfüllen.
Der theoretischen Nothwendigkeit schien sich stets die praktische Un-
möglichkeit gegenüber zu stellen.

Der Grund dieser Erscheinung liegt nach unserer Ansicht wesent-
lich darin, dass man meistens nicht nach einer Erkenntniss der stereo-
metrischen Grundform, sondern nach einer absoluten mathematischen
Erkenntniss der gesammten äusseren Form des Organismus, nach
einer genauen Ausmessung und Berechnung aller Einzelnheiten seiner
Oberfläche strebte. Diese ist aber in der That entweder (in den
meisten Fällen) ganz unmöglich, oder da, wo sie ausführbar ist, von
ganz untergeordnetem Werthe. Die Gründe dafür haben wir bereits
oben (p. 26, p. 139) erörtert. Sie liegen theils in der absoluten und
unbegrenzten Variabilität der Organismen, theils in ihrem festflüssigen
Aggregatzustande. Wollte man dennoch eine sorgfältige stereometrische
Ausmessung und Berechnung aller der unendlich verwickelten und
vielfältig gekrümmten Flächen, Linien und Winkel versuchen, welche
auch die meisten einfacheren, festflüssigen organischen Formen be-
grenzen, so würde eine derartige geometrische Bestimmung weder
von theoretischem Interesse noch von praktischer Bedeutung sein.
Auf eine solche absolute mathematische Bestimmung der Ober-
flächen-Formen können wir daher, namentlich auch angesichts der
individuellen Ungleichheit und Variabilität aller Organismen vollstän-
dig verzichten.

Anders verhält sich die theoretische Bedeutung und der praktische
Werth der stereometrischen Grundform, deren Erkenntniss für den
organischen Morphologen dieselbe Wichtigkeit, wie für den anorganischen
Krystallographen besitzt. Diese ist wesentlich unabhängig von allen
Einzelheiten der Oberflächen-Begrenzung und richtet ihr Augenmerk
vor Allen auf die formbestimmenden Axen des Körpers und deren
Pole. Die Methode der Krystallographie zeigt uns hier den allein
möglichen und richtigen Weg. Kein Krystallograph würde jemals zu
der Aufstellung von einigen wenigen geometrischen Grundformen für
die mannichfaltigen vielflächigen Krystallkörper der Mineralien gelangt
sein, wenn er bei der Betrachtung der Krystallflächen stehen geblie-
ben wäre und sich mit der, wenn auch noch so sorgfältigen Aus-
messung derselben begnügt hätte. Zur Entdeckung der einfachen
Grundform des Krystalles oder seines "Systems" gelangt vielmehr der
Mineralog nur dadurch, dass er die idealen Axen des Krystallkör-
pers aufsucht, mit Bezug auf welche sämmtliche Theilchen desselben

Begriff und Aufgabe der Promorphologie.
der dynamischen Lebens-Processe eingeschlagen hat, wiederholt die
Nothwendigkeit ausgesprochen, dass auch die organische Morphologie
bei Untersuchung der statischen Lebens-Substrate, der organischen
Formen, denselben Weg verfolgen müsse. Indessen erschien diese
Forderung immer eben so leicht ausgesprochen, als schwer zu erfüllen.
Der theoretischen Nothwendigkeit schien sich stets die praktische Un-
möglichkeit gegenüber zu stellen.

Der Grund dieser Erscheinung liegt nach unserer Ansicht wesent-
lich darin, dass man meistens nicht nach einer Erkenntniss der stereo-
metrischen Grundform, sondern nach einer absoluten mathematischen
Erkenntniss der gesammten äusseren Form des Organismus, nach
einer genauen Ausmessung und Berechnung aller Einzelnheiten seiner
Oberfläche strebte. Diese ist aber in der That entweder (in den
meisten Fällen) ganz unmöglich, oder da, wo sie ausführbar ist, von
ganz untergeordnetem Werthe. Die Gründe dafür haben wir bereits
oben (p. 26, p. 139) erörtert. Sie liegen theils in der absoluten und
unbegrenzten Variabilität der Organismen, theils in ihrem festflüssigen
Aggregatzustande. Wollte man dennoch eine sorgfältige stereometrische
Ausmessung und Berechnung aller der unendlich verwickelten und
vielfältig gekrümmten Flächen, Linien und Winkel versuchen, welche
auch die meisten einfacheren, festflüssigen organischen Formen be-
grenzen, so würde eine derartige geometrische Bestimmung weder
von theoretischem Interesse noch von praktischer Bedeutung sein.
Auf eine solche absolute mathematische Bestimmung der Ober-
flächen-Formen können wir daher, namentlich auch angesichts der
individuellen Ungleichheit und Variabilität aller Organismen vollstän-
dig verzichten.

Anders verhält sich die theoretische Bedeutung und der praktische
Werth der stereometrischen Grundform, deren Erkenntniss für den
organischen Morphologen dieselbe Wichtigkeit, wie für den anorganischen
Krystallographen besitzt. Diese ist wesentlich unabhängig von allen
Einzelheiten der Oberflächen-Begrenzung und richtet ihr Augenmerk
vor Allen auf die formbestimmenden Axen des Körpers und deren
Pole. Die Methode der Krystallographie zeigt uns hier den allein
möglichen und richtigen Weg. Kein Krystallograph würde jemals zu
der Aufstellung von einigen wenigen geometrischen Grundformen für
die mannichfaltigen vielflächigen Krystallkörper der Mineralien gelangt
sein, wenn er bei der Betrachtung der Krystallflächen stehen geblie-
ben wäre und sich mit der, wenn auch noch so sorgfältigen Aus-
messung derselben begnügt hätte. Zur Entdeckung der einfachen
Grundform des Krystalles oder seines „Systems“ gelangt vielmehr der
Mineralog nur dadurch, dass er die idealen Axen des Krystallkör-
pers aufsucht, mit Bezug auf welche sämmtliche Theilchen desselben

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[388/0427] Begriff und Aufgabe der Promorphologie. der dynamischen Lebens-Processe eingeschlagen hat, wiederholt die Nothwendigkeit ausgesprochen, dass auch die organische Morphologie bei Untersuchung der statischen Lebens-Substrate, der organischen Formen, denselben Weg verfolgen müsse. Indessen erschien diese Forderung immer eben so leicht ausgesprochen, als schwer zu erfüllen. Der theoretischen Nothwendigkeit schien sich stets die praktische Un- möglichkeit gegenüber zu stellen. Der Grund dieser Erscheinung liegt nach unserer Ansicht wesent- lich darin, dass man meistens nicht nach einer Erkenntniss der stereo- metrischen Grundform, sondern nach einer absoluten mathematischen Erkenntniss der gesammten äusseren Form des Organismus, nach einer genauen Ausmessung und Berechnung aller Einzelnheiten seiner Oberfläche strebte. Diese ist aber in der That entweder (in den meisten Fällen) ganz unmöglich, oder da, wo sie ausführbar ist, von ganz untergeordnetem Werthe. Die Gründe dafür haben wir bereits oben (p. 26, p. 139) erörtert. Sie liegen theils in der absoluten und unbegrenzten Variabilität der Organismen, theils in ihrem festflüssigen Aggregatzustande. Wollte man dennoch eine sorgfältige stereometrische Ausmessung und Berechnung aller der unendlich verwickelten und vielfältig gekrümmten Flächen, Linien und Winkel versuchen, welche auch die meisten einfacheren, festflüssigen organischen Formen be- grenzen, so würde eine derartige geometrische Bestimmung weder von theoretischem Interesse noch von praktischer Bedeutung sein. Auf eine solche absolute mathematische Bestimmung der Ober- flächen-Formen können wir daher, namentlich auch angesichts der individuellen Ungleichheit und Variabilität aller Organismen vollstän- dig verzichten. Anders verhält sich die theoretische Bedeutung und der praktische Werth der stereometrischen Grundform, deren Erkenntniss für den organischen Morphologen dieselbe Wichtigkeit, wie für den anorganischen Krystallographen besitzt. Diese ist wesentlich unabhängig von allen Einzelheiten der Oberflächen-Begrenzung und richtet ihr Augenmerk vor Allen auf die formbestimmenden Axen des Körpers und deren Pole. Die Methode der Krystallographie zeigt uns hier den allein möglichen und richtigen Weg. Kein Krystallograph würde jemals zu der Aufstellung von einigen wenigen geometrischen Grundformen für die mannichfaltigen vielflächigen Krystallkörper der Mineralien gelangt sein, wenn er bei der Betrachtung der Krystallflächen stehen geblie- ben wäre und sich mit der, wenn auch noch so sorgfältigen Aus- messung derselben begnügt hätte. Zur Entdeckung der einfachen Grundform des Krystalles oder seines „Systems“ gelangt vielmehr der Mineralog nur dadurch, dass er die idealen Axen des Krystallkör- pers aufsucht, mit Bezug auf welche sämmtliche Theilchen desselben

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/427>, abgerufen am 15.06.2024.