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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie.
eine bestimmte Lagerung einnehmen, und dass er die gleiche oder
verschiedene Beschaffenheit dieser Axen und ihrer Pole erwägt.

Ganz ebenso muss auch der Morpholog zu Werke gehen, der ein-
fache geometrische Grundformen für die unendliche Mannichfaltigkeit
der Thier- und Pflanzengestalten auffinden will, und gerade in dieser
vorwiegenden Berücksichtigung der Axen des organischen Naturkörpers
und seiner Pole ist das Verdienst der bahnbrechenden Arbeiten von
Bronn und der späteren von Jäger zu suchen. Wie die nachfol-
genden Untersuchungen beweisen werden, führt eine scharfe Erfassung
der Axen und ihrer Pole nicht allein sicher, sondern auch einfach
und leicht zu der Entdeckung der einfachen geometrischen Grundform,
der Urgestalt oder des Modells, des organisirten Krystalls gewisser-
maassen, welcher der augenscheinlich ganz unberechenbaren Gestalt
der allermeisten Thier-, Protisten- und Pflanzen-Gestalten zu Grunde
liegt. Erst wenn diese mathematisch bestimmte Grundform, dieses
constante "Krystallsystem" des organischen Individuums gefunden ist,
welches mit einem einzigen Worte alle wesentlichen Grundverhältnisse
der Gestalt ausspricht, kann sich daran die wissenschaftliche Dar-
stellung der individuellen Einzelheiten der Form anschliessen. Man
misst dann zunächst die Länge der verschiedenen Axen und den Ab-
stand der einzelnen Oberflächentheile von denselben und von ihren
Polen, und kann so erforderlichenfalls eine mathematisch genaue Be-
schreibung des Ganzen entwerfen.

Als eines der wichtigsten Ergebnisse, welche uns diese stereome-
trische Betrachtungsweise der organischen individuellen Form geliefert
hat, ist schon oben hervorgehoben worden, dass die herrschende An-
sicht von der fundamentalen morphologischen Differenz der anorga-
nischen und organischen Naturkörper ein unbegründetes Dogma ist
(p. 137--139). Wenn in den meisten Handbüchern die Grundformen
der mineralischen Krystalle einerseits, die der Thiere und Pflanzen
andrerseits als vollkommen und im Grunde verschieden bezeichnet
werden, so ist dies ganz irrig. Es giebt Organismen, insbesondere
unter den Rhizopoden, welche zwar nicht in der Flächen-Ausbildung,
wohl aber in der die Flächenform bestimmenden Axenbildung von
regulären Krystallen gar nicht zu unterscheiden sind. Ja es lassen
sich sogar unter den Radiolarien viele Thierformen nachweisen, deren
ganzes Skelet gewissermassen weiter nichts als ein System von ver-
körperten Krystallaxen ist, und zwar gehören diese organisirten Kry-
stallformen den verschiedenen Systemen an, welche auch der Minera-
log unterscheidet. So finden wir z. B. in Haliomma hexacanthum und
Actinomma drymodes das reguläre Hexaeder des tesseralen Krystall-
systems, in Acanthostaurus hastatus und Astromma Aristotelis das
Quadrat-Octaeder des tetragonalen Krystallsystems, in Tetrapyle octa-

IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie.
eine bestimmte Lagerung einnehmen, und dass er die gleiche oder
verschiedene Beschaffenheit dieser Axen und ihrer Pole erwägt.

Ganz ebenso muss auch der Morpholog zu Werke gehen, der ein-
fache geometrische Grundformen für die unendliche Mannichfaltigkeit
der Thier- und Pflanzengestalten auffinden will, und gerade in dieser
vorwiegenden Berücksichtigung der Axen des organischen Naturkörpers
und seiner Pole ist das Verdienst der bahnbrechenden Arbeiten von
Bronn und der späteren von Jäger zu suchen. Wie die nachfol-
genden Untersuchungen beweisen werden, führt eine scharfe Erfassung
der Axen und ihrer Pole nicht allein sicher, sondern auch einfach
und leicht zu der Entdeckung der einfachen geometrischen Grundform,
der Urgestalt oder des Modells, des organisirten Krystalls gewisser-
maassen, welcher der augenscheinlich ganz unberechenbaren Gestalt
der allermeisten Thier-, Protisten- und Pflanzen-Gestalten zu Grunde
liegt. Erst wenn diese mathematisch bestimmte Grundform, dieses
constante „Krystallsystem“ des organischen Individuums gefunden ist,
welches mit einem einzigen Worte alle wesentlichen Grundverhältnisse
der Gestalt ausspricht, kann sich daran die wissenschaftliche Dar-
stellung der individuellen Einzelheiten der Form anschliessen. Man
misst dann zunächst die Länge der verschiedenen Axen und den Ab-
stand der einzelnen Oberflächentheile von denselben und von ihren
Polen, und kann so erforderlichenfalls eine mathematisch genaue Be-
schreibung des Ganzen entwerfen.

Als eines der wichtigsten Ergebnisse, welche uns diese stereome-
trische Betrachtungsweise der organischen individuellen Form geliefert
hat, ist schon oben hervorgehoben worden, dass die herrschende An-
sicht von der fundamentalen morphologischen Differenz der anorga-
nischen und organischen Naturkörper ein unbegründetes Dogma ist
(p. 137—139). Wenn in den meisten Handbüchern die Grundformen
der mineralischen Krystalle einerseits, die der Thiere und Pflanzen
andrerseits als vollkommen und im Grunde verschieden bezeichnet
werden, so ist dies ganz irrig. Es giebt Organismen, insbesondere
unter den Rhizopoden, welche zwar nicht in der Flächen-Ausbildung,
wohl aber in der die Flächenform bestimmenden Axenbildung von
regulären Krystallen gar nicht zu unterscheiden sind. Ja es lassen
sich sogar unter den Radiolarien viele Thierformen nachweisen, deren
ganzes Skelet gewissermassen weiter nichts als ein System von ver-
körperten Krystallaxen ist, und zwar gehören diese organisirten Kry-
stallformen den verschiedenen Systemen an, welche auch der Minera-
log unterscheidet. So finden wir z. B. in Haliomma hexacanthum und
Actinomma drymodes das reguläre Hexaeder des tesseralen Krystall-
systems, in Acanthostaurus hastatus und Astromma Aristotelis das
Quadrat-Octaeder des tetragonalen Krystallsystems, in Tetrapyle octa-

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[389/0428] IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie. eine bestimmte Lagerung einnehmen, und dass er die gleiche oder verschiedene Beschaffenheit dieser Axen und ihrer Pole erwägt. Ganz ebenso muss auch der Morpholog zu Werke gehen, der ein- fache geometrische Grundformen für die unendliche Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzengestalten auffinden will, und gerade in dieser vorwiegenden Berücksichtigung der Axen des organischen Naturkörpers und seiner Pole ist das Verdienst der bahnbrechenden Arbeiten von Bronn und der späteren von Jäger zu suchen. Wie die nachfol- genden Untersuchungen beweisen werden, führt eine scharfe Erfassung der Axen und ihrer Pole nicht allein sicher, sondern auch einfach und leicht zu der Entdeckung der einfachen geometrischen Grundform, der Urgestalt oder des Modells, des organisirten Krystalls gewisser- maassen, welcher der augenscheinlich ganz unberechenbaren Gestalt der allermeisten Thier-, Protisten- und Pflanzen-Gestalten zu Grunde liegt. Erst wenn diese mathematisch bestimmte Grundform, dieses constante „Krystallsystem“ des organischen Individuums gefunden ist, welches mit einem einzigen Worte alle wesentlichen Grundverhältnisse der Gestalt ausspricht, kann sich daran die wissenschaftliche Dar- stellung der individuellen Einzelheiten der Form anschliessen. Man misst dann zunächst die Länge der verschiedenen Axen und den Ab- stand der einzelnen Oberflächentheile von denselben und von ihren Polen, und kann so erforderlichenfalls eine mathematisch genaue Be- schreibung des Ganzen entwerfen. Als eines der wichtigsten Ergebnisse, welche uns diese stereome- trische Betrachtungsweise der organischen individuellen Form geliefert hat, ist schon oben hervorgehoben worden, dass die herrschende An- sicht von der fundamentalen morphologischen Differenz der anorga- nischen und organischen Naturkörper ein unbegründetes Dogma ist (p. 137—139). Wenn in den meisten Handbüchern die Grundformen der mineralischen Krystalle einerseits, die der Thiere und Pflanzen andrerseits als vollkommen und im Grunde verschieden bezeichnet werden, so ist dies ganz irrig. Es giebt Organismen, insbesondere unter den Rhizopoden, welche zwar nicht in der Flächen-Ausbildung, wohl aber in der die Flächenform bestimmenden Axenbildung von regulären Krystallen gar nicht zu unterscheiden sind. Ja es lassen sich sogar unter den Radiolarien viele Thierformen nachweisen, deren ganzes Skelet gewissermassen weiter nichts als ein System von ver- körperten Krystallaxen ist, und zwar gehören diese organisirten Kry- stallformen den verschiedenen Systemen an, welche auch der Minera- log unterscheidet. So finden wir z. B. in Haliomma hexacanthum und Actinomma drymodes das reguläre Hexaeder des tesseralen Krystall- systems, in Acanthostaurus hastatus und Astromma Aristotelis das Quadrat-Octaeder des tetragonalen Krystallsystems, in Tetrapyle octa-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/428>, abgerufen am 23.11.2024.