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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
der Morphologie insbesondere; die Selbstbewunderung, mit der man
die quantitative Vermehrung unserer zoologischen und botanischen
Kenntnisse alljährlich anstaunt. Wo aber, fragen wir, bleibt die den-
kende und erkennende Verwerthung dieser Kenntnisse? Wo bleibt
der qualitative Fortschritt in der Erkenntniss? Wo bleibt das erklä-
rende Licht in dem dunklen Chaos der Gestalten? Wo bleiben die
morphologischen Naturgesetze? Wir müssen offen gestehen, in
diesem rein quantitativen Zuwachs mehr Ballast, als Nutzen zu sehen.
Der Steinhaufen wird nicht dadurch zum Gebäude, dass er alle Jahr
um so und so viel höher wird. Im Gegentheil, es wird nur schwie-
riger, sich in demselben zurechtzufinden, und die Ausführung des Baues
wird dadurch nur in immer weitere Ferne gerückt.

Nicht mit Unrecht erhebt die heutige Physiologie stolz ihr Haupt
über ihre Schwester, die armselige Morphologie. So lange die letztere
nicht nach der Erklärung der Formen, nach der Erkenntniss ihrer
Bildungsgesetze strebt, ist sie dieser Verachtung werth. Zwar möchte
sie dann wenigstens auf den Rang einer descriptiven Wissenschaft An-
spruch machen. Indessen ist diese Bezeichnung selbst ihr nicht zu
gewähren. Denn eine bloss beschreibende Wissenschaft ist eine Con-
tradictio in adjecto. Nur dadurch, dass der gesetzmässige Zusam-
menhang in der Fülle der einzelnen Erscheinungen
gefunden
wird, nur dadurch erhebt sich die Kunst der Formbeschreibung zur
Wissenschaft der Formerkenntniss.

Wenn wir nun nach den Gründen fragen, warum die wissenschaft-
liche Morphologie noch so unendlich zurück ist, warum noch kaum die
ersten Grundlinien dieses grossen und herrlichen Gebäudes gelegt sind,
warum der grosse Steinhaufen noch roh und ungeordnet ausserhalb
dieser Grundlinien liegt, so finden wir freilich die rechtfertigende Ant-
wort theilweis in der ausserordentlichen Schwierigkeit der Aufgabe.
Denn die wissenschaftliche Morphologie der Organismen ist vielleicht
von allen Naturwissenschaften die schwierigste und unzugänglichste.
Wohl in keiner andern Naturwissenschaft steht die reiche Fülle der
Erscheinungen in einem solchen Missverhältnisse zu unseren dürftigen
Mitteln, sie zu erklären, ihre Gesetzmässigkeit zu erkennen und zu be-
gründen. Das Zusammenwirken der verschiedensten Zweige der Natur-
wissenschaft, welches z. B. die Physiologie in dem letzten Decennium
auf eine so ansehnliche Höhe erhoben hat, kommt der Morphologie
nur in äusserst geringem Maasse zu statten. Und die untrügliche
mathematische Sicherheit der messenden und rechnenden Methode,
welche die Morphologie der anorganischen Naturkörper, die Krystallo-
graphie, auf einen so hohen Grad der Vollendung erhoben hat, ist in
der Morphologie der Organismen fast nirgends anwendbar.

Zum grossen Theil aber liegt der höchst unvollkommene Zustand

Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
der Morphologie insbesondere; die Selbstbewunderung, mit der man
die quantitative Vermehrung unserer zoologischen und botanischen
Kenntnisse alljährlich anstaunt. Wo aber, fragen wir, bleibt die den-
kende und erkennende Verwerthung dieser Kenntnisse? Wo bleibt
der qualitative Fortschritt in der Erkenntniss? Wo bleibt das erklä-
rende Licht in dem dunklen Chaos der Gestalten? Wo bleiben die
morphologischen Naturgesetze? Wir müssen offen gestehen, in
diesem rein quantitativen Zuwachs mehr Ballast, als Nutzen zu sehen.
Der Steinhaufen wird nicht dadurch zum Gebäude, dass er alle Jahr
um so und so viel höher wird. Im Gegentheil, es wird nur schwie-
riger, sich in demselben zurechtzufinden, und die Ausführung des Baues
wird dadurch nur in immer weitere Ferne gerückt.

Nicht mit Unrecht erhebt die heutige Physiologie stolz ihr Haupt
über ihre Schwester, die armselige Morphologie. So lange die letztere
nicht nach der Erklärung der Formen, nach der Erkenntniss ihrer
Bildungsgesetze strebt, ist sie dieser Verachtung werth. Zwar möchte
sie dann wenigstens auf den Rang einer descriptiven Wissenschaft An-
spruch machen. Indessen ist diese Bezeichnung selbst ihr nicht zu
gewähren. Denn eine bloss beschreibende Wissenschaft ist eine Con-
tradictio in adjecto. Nur dadurch, dass der gesetzmässige Zusam-
menhang in der Fülle der einzelnen Erscheinungen
gefunden
wird, nur dadurch erhebt sich die Kunst der Formbeschreibung zur
Wissenschaft der Formerkenntniss.

Wenn wir nun nach den Gründen fragen, warum die wissenschaft-
liche Morphologie noch so unendlich zurück ist, warum noch kaum die
ersten Grundlinien dieses grossen und herrlichen Gebäudes gelegt sind,
warum der grosse Steinhaufen noch roh und ungeordnet ausserhalb
dieser Grundlinien liegt, so finden wir freilich die rechtfertigende Ant-
wort theilweis in der ausserordentlichen Schwierigkeit der Aufgabe.
Denn die wissenschaftliche Morphologie der Organismen ist vielleicht
von allen Naturwissenschaften die schwierigste und unzugänglichste.
Wohl in keiner andern Naturwissenschaft steht die reiche Fülle der
Erscheinungen in einem solchen Missverhältnisse zu unseren dürftigen
Mitteln, sie zu erklären, ihre Gesetzmässigkeit zu erkennen und zu be-
gründen. Das Zusammenwirken der verschiedensten Zweige der Natur-
wissenschaft, welches z. B. die Physiologie in dem letzten Decennium
auf eine so ansehnliche Höhe erhoben hat, kommt der Morphologie
nur in äusserst geringem Maasse zu statten. Und die untrügliche
mathematische Sicherheit der messenden und rechnenden Methode,
welche die Morphologie der anorganischen Naturkörper, die Krystallo-
graphie, auf einen so hohen Grad der Vollendung erhoben hat, ist in
der Morphologie der Organismen fast nirgends anwendbar.

Zum grossen Theil aber liegt der höchst unvollkommene Zustand

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[5/0044] Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. der Morphologie insbesondere; die Selbstbewunderung, mit der man die quantitative Vermehrung unserer zoologischen und botanischen Kenntnisse alljährlich anstaunt. Wo aber, fragen wir, bleibt die den- kende und erkennende Verwerthung dieser Kenntnisse? Wo bleibt der qualitative Fortschritt in der Erkenntniss? Wo bleibt das erklä- rende Licht in dem dunklen Chaos der Gestalten? Wo bleiben die morphologischen Naturgesetze? Wir müssen offen gestehen, in diesem rein quantitativen Zuwachs mehr Ballast, als Nutzen zu sehen. Der Steinhaufen wird nicht dadurch zum Gebäude, dass er alle Jahr um so und so viel höher wird. Im Gegentheil, es wird nur schwie- riger, sich in demselben zurechtzufinden, und die Ausführung des Baues wird dadurch nur in immer weitere Ferne gerückt. Nicht mit Unrecht erhebt die heutige Physiologie stolz ihr Haupt über ihre Schwester, die armselige Morphologie. So lange die letztere nicht nach der Erklärung der Formen, nach der Erkenntniss ihrer Bildungsgesetze strebt, ist sie dieser Verachtung werth. Zwar möchte sie dann wenigstens auf den Rang einer descriptiven Wissenschaft An- spruch machen. Indessen ist diese Bezeichnung selbst ihr nicht zu gewähren. Denn eine bloss beschreibende Wissenschaft ist eine Con- tradictio in adjecto. Nur dadurch, dass der gesetzmässige Zusam- menhang in der Fülle der einzelnen Erscheinungen gefunden wird, nur dadurch erhebt sich die Kunst der Formbeschreibung zur Wissenschaft der Formerkenntniss. Wenn wir nun nach den Gründen fragen, warum die wissenschaft- liche Morphologie noch so unendlich zurück ist, warum noch kaum die ersten Grundlinien dieses grossen und herrlichen Gebäudes gelegt sind, warum der grosse Steinhaufen noch roh und ungeordnet ausserhalb dieser Grundlinien liegt, so finden wir freilich die rechtfertigende Ant- wort theilweis in der ausserordentlichen Schwierigkeit der Aufgabe. Denn die wissenschaftliche Morphologie der Organismen ist vielleicht von allen Naturwissenschaften die schwierigste und unzugänglichste. Wohl in keiner andern Naturwissenschaft steht die reiche Fülle der Erscheinungen in einem solchen Missverhältnisse zu unseren dürftigen Mitteln, sie zu erklären, ihre Gesetzmässigkeit zu erkennen und zu be- gründen. Das Zusammenwirken der verschiedensten Zweige der Natur- wissenschaft, welches z. B. die Physiologie in dem letzten Decennium auf eine so ansehnliche Höhe erhoben hat, kommt der Morphologie nur in äusserst geringem Maasse zu statten. Und die untrügliche mathematische Sicherheit der messenden und rechnenden Methode, welche die Morphologie der anorganischen Naturkörper, die Krystallo- graphie, auf einen so hohen Grad der Vollendung erhoben hat, ist in der Morphologie der Organismen fast nirgends anwendbar. Zum grossen Theil aber liegt der höchst unvollkommene Zustand

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/44>, abgerufen am 21.11.2024.