Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. unserer heutigen Morphologie der Organismen auch an dem unwissen-schaftlichen Verfahren der Morphologen, welches wir in den obigen Sätzen bei weitem noch nicht so scharf gerügt haben, wie es gerügt zu werden verdiente. Vor Allem ist es die übermässige Vernachlässi- gung strenger Denkthätigkeit, der fast allgemeine Mangel an wirklich vergleichender und denkender Naturbetrachtung, dem wir hier den grössten Theil der Schuld beimessen müssen. Freilich ist es un- endlich viel bequemer, irgend eine der unzähligen Thier- und Pflan- zen-Formen herzunehmen, sie mit den ausgebildeten anatomischen und mikroskopischen Hülfsmitteln der Neuzeit eingehend zu untersuchen, und die gefundenen Formenverhältnisse ausführlich zu beschreiben und abzubilden; freilich ist es unendlich viel bequemer und wohlfeiler solche sogenannte "Entdeckungen" zu machen, als durch methodische Ver- gleichung, durch angestrengtes Denken das Verständniss der beob- achteten Form zu gewinnen und die Gesetzmässigkeit der Form- Erscheinung nachzuweisen. Insbesondere in den letzten acht Jahren, seit dem allzufrühen und nicht genug zu beklagenden Tode von Jo- hannes Müller (1858), dessen gewaltige Autorität bei seinen Lebzeiten noch einigermaassen strenge Ordnung auf dem weiten Gebiete der or- ganischen Morphologie aufrecht zu erhalten wusste, ist eine fortschrei- tende Verwilderung und allgemeine Anarchie auf demselben eingerissen, so dass jede strenge Vergleichung der quantitativ so bedeutend wach- senden jährlichen Leistungen einen eben so jährlich beschleunigten qua- litativen Rückschritt nachweist. In der That nimmt die denkende Betrachtung der organischen Formen heutzutage in demselben Verhält- nisse alljährlich ab, als die gedankenlose Production des Rohmaterials zunimmt. Sehr richtig sprach in dieser Beziehung schon Victor Carus vor nunmehr 13 Jahren die freilich wenig beherzigten Worte: "Wie es für unsere Zeit charakteristisch ist, dass fast alle Wissenschaften sich in endlose Specialitäten verlieren und nur selten zu dem rothen Faden ihrer Entwickelung zurückkommen, so scheut man sich auch in der Biologie (und ganz vorzüglich in der Morphologie!) vor An- wendung selbst der ungefährlichsten Denkprocesse." Neben der fast allgemein herrschenden Denkträgheit ist es freilich Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. unserer heutigen Morphologie der Organismen auch an dem unwissen-schaftlichen Verfahren der Morphologen, welches wir in den obigen Sätzen bei weitem noch nicht so scharf gerügt haben, wie es gerügt zu werden verdiente. Vor Allem ist es die übermässige Vernachlässi- gung strenger Denkthätigkeit, der fast allgemeine Mangel an wirklich vergleichender und denkender Naturbetrachtung, dem wir hier den grössten Theil der Schuld beimessen müssen. Freilich ist es un- endlich viel bequemer, irgend eine der unzähligen Thier- und Pflan- zen-Formen herzunehmen, sie mit den ausgebildeten anatomischen und mikroskopischen Hülfsmitteln der Neuzeit eingehend zu untersuchen, und die gefundenen Formenverhältnisse ausführlich zu beschreiben und abzubilden; freilich ist es unendlich viel bequemer und wohlfeiler solche sogenannte „Entdeckungen“ zu machen, als durch methodische Ver- gleichung, durch angestrengtes Denken das Verständniss der beob- achteten Form zu gewinnen und die Gesetzmässigkeit der Form- Erscheinung nachzuweisen. Insbesondere in den letzten acht Jahren, seit dem allzufrühen und nicht genug zu beklagenden Tode von Jo- hannes Müller (1858), dessen gewaltige Autorität bei seinen Lebzeiten noch einigermaassen strenge Ordnung auf dem weiten Gebiete der or- ganischen Morphologie aufrecht zu erhalten wusste, ist eine fortschrei- tende Verwilderung und allgemeine Anarchie auf demselben eingerissen, so dass jede strenge Vergleichung der quantitativ so bedeutend wach- senden jährlichen Leistungen einen eben so jährlich beschleunigten qua- litativen Rückschritt nachweist. In der That nimmt die denkende Betrachtung der organischen Formen heutzutage in demselben Verhält- nisse alljährlich ab, als die gedankenlose Production des Rohmaterials zunimmt. Sehr richtig sprach in dieser Beziehung schon Victor Carus vor nunmehr 13 Jahren die freilich wenig beherzigten Worte: „Wie es für unsere Zeit charakteristisch ist, dass fast alle Wissenschaften sich in endlose Specialitäten verlieren und nur selten zu dem rothen Faden ihrer Entwickelung zurückkommen, so scheut man sich auch in der Biologie (und ganz vorzüglich in der Morphologie!) vor An- wendung selbst der ungefährlichsten Denkprocesse.“ Neben der fast allgemein herrschenden Denkträgheit ist es freilich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0045" n="6"/><fw place="top" type="header">Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.</fw><lb/> unserer heutigen Morphologie der Organismen auch an dem unwissen-<lb/> schaftlichen Verfahren der Morphologen, welches wir in den obigen<lb/> Sätzen bei weitem noch nicht so scharf gerügt haben, wie es gerügt<lb/> zu werden verdiente. 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Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
unserer heutigen Morphologie der Organismen auch an dem unwissen-
schaftlichen Verfahren der Morphologen, welches wir in den obigen
Sätzen bei weitem noch nicht so scharf gerügt haben, wie es gerügt
zu werden verdiente. Vor Allem ist es die übermässige Vernachlässi-
gung strenger Denkthätigkeit, der fast allgemeine Mangel an
wirklich vergleichender und denkender Naturbetrachtung, dem wir hier
den grössten Theil der Schuld beimessen müssen. Freilich ist es un-
endlich viel bequemer, irgend eine der unzähligen Thier- und Pflan-
zen-Formen herzunehmen, sie mit den ausgebildeten anatomischen und
mikroskopischen Hülfsmitteln der Neuzeit eingehend zu untersuchen,
und die gefundenen Formenverhältnisse ausführlich zu beschreiben und
abzubilden; freilich ist es unendlich viel bequemer und wohlfeiler solche
sogenannte „Entdeckungen“ zu machen, als durch methodische Ver-
gleichung, durch angestrengtes Denken das Verständniss der beob-
achteten Form zu gewinnen und die Gesetzmässigkeit der Form-
Erscheinung nachzuweisen. Insbesondere in den letzten acht Jahren,
seit dem allzufrühen und nicht genug zu beklagenden Tode von Jo-
hannes Müller (1858), dessen gewaltige Autorität bei seinen Lebzeiten
noch einigermaassen strenge Ordnung auf dem weiten Gebiete der or-
ganischen Morphologie aufrecht zu erhalten wusste, ist eine fortschrei-
tende Verwilderung und allgemeine Anarchie auf demselben eingerissen,
so dass jede strenge Vergleichung der quantitativ so bedeutend wach-
senden jährlichen Leistungen einen eben so jährlich beschleunigten qua-
litativen Rückschritt nachweist. In der That nimmt die denkende
Betrachtung der organischen Formen heutzutage in demselben Verhält-
nisse alljährlich ab, als die gedankenlose Production des Rohmaterials
zunimmt. Sehr richtig sprach in dieser Beziehung schon Victor Carus
vor nunmehr 13 Jahren die freilich wenig beherzigten Worte: „Wie es
für unsere Zeit charakteristisch ist, dass fast alle Wissenschaften sich
in endlose Specialitäten verlieren und nur selten zu dem rothen Faden
ihrer Entwickelung zurückkommen, so scheut man sich auch in
der Biologie (und ganz vorzüglich in der Morphologie!) vor An-
wendung selbst der ungefährlichsten Denkprocesse.“
Neben der fast allgemein herrschenden Denkträgheit ist es freilich
auch sehr oft die höchst mangelhafte allgemeine Bildung, der
Mangel an philosophischer Vorbildung und an Ueberblick der gesamm-
ten Naturwissenschaft, welcher den Morphologen unserer Tage den Ge-
sichtskreis so verengt, dass sie das Ziel ihrer eigenen Wissenschaft
nicht mehr sehen können. Die grosse Mehrzahl der heutigen Mor-
phologen, und zwar sowohl der sogenannten „Systematiker,“ welche
die äusseren Formen, als der sogenannten „vergleichenden Anatomen,“
welche den inneren Bau der Organismen beschreiben (ohne ihn zu
vergleichen, und ohne über den Gegenstand überhaupt ernstlich nach-
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