Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
Zweites Capitel. Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
"Eine höchst wichtige Betrachtung in der Geschichte der Wis- senschaft ist die, dass sich aus den ersten Anfängen einer Ent- deckung Manches in den Gang des Wissens heran- und durch- zieht, welches den Fortschritt hindert, sogar öfters lähmt. So hat auch jeder Weg, durch den wir zu einer neuen Entdeckung gelangen, Einfluss auf Ansicht und Theorie. Was würden wir von einem Architecten sagen, der durch eine Seitenthüre in einen Palast gekommen wäre, und nun, bei Beschreibung und Darstel- lung eines solchen Gebäudes, Alles auf diese erste untergeordnete Seite beziehen wollte? Und doch geschieht dies in den Wissen- schaften jeden Tag." Goethe.
I. Morphologie und Biologie.
Den Begriff der Morphologie der Organismen haben wir im ersten Capitel dahin bestimmt, dass dieselbe die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren Formenverhältnissen der belebten Naturkör- per ist; wir haben ihr die Aufgabe gesteckt, diese Formen-Verhältnisse zu erklären und auf bestimmte Naturgesetze zurückzuführen. Wir ha- ben nun zunächst den Umfang und Inhalt jenes Begriffs noch näher zu erläutern, indem wir das Verhältniss der Morphologie zu den an- deren Naturwissenschaften ins Auge fassen.
Indem die Morphologie der Organismen die Bildungs-Gesetze der thierischen und pflanzlichen Formen untersucht, bildet sie einen Theil der Biologie oder Lebenswissenschaft, wenn wir unter diesem Namen, wie es neuerdings geschieht, die gesammte Wissenschaft von den Organismen oder belebten Naturkörpern unseres Erdballs zusammen- fassen. 1) Gewöhnlich wird die Morphologie als der eine der beiden
1) Indem wir den Begriff der Biologie auf diesen umfassendsten und wei- testen Umfang ausdehnen, schliessen wir den engen und beschränkten Sinn aus, in welchem man häufig (insbesondere in der Entomologie) die Biologie mit der Oecologie verwechselt, mit der Wissenschaft von der Oeconomie, von der Lebens- weise, von den äusseren Lebensbeziehungen der Organismen zu einander etc.
Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
Zweites Capitel. Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
„Eine höchst wichtige Betrachtung in der Geschichte der Wis- senschaft ist die, dass sich aus den ersten Anfängen einer Ent- deckung Manches in den Gang des Wissens heran- und durch- zieht, welches den Fortschritt hindert, sogar öfters lähmt. So hat auch jeder Weg, durch den wir zu einer neuen Entdeckung gelangen, Einfluss auf Ansicht und Theorie. Was würden wir von einem Architecten sagen, der durch eine Seitenthüre in einen Palast gekommen wäre, und nun, bei Beschreibung und Darstel- lung eines solchen Gebäudes, Alles auf diese erste untergeordnete Seite beziehen wollte? Und doch geschieht dies in den Wissen- schaften jeden Tag.“ Goethe.
I. Morphologie und Biologie.
Den Begriff der Morphologie der Organismen haben wir im ersten Capitel dahin bestimmt, dass dieselbe die gesammte Wissenschaft von den inneren und äusseren Formenverhältnissen der belebten Naturkör- per ist; wir haben ihr die Aufgabe gesteckt, diese Formen-Verhältnisse zu erklären und auf bestimmte Naturgesetze zurückzuführen. Wir ha- ben nun zunächst den Umfang und Inhalt jenes Begriffs noch näher zu erläutern, indem wir das Verhältniss der Morphologie zu den an- deren Naturwissenschaften ins Auge fassen.
Indem die Morphologie der Organismen die Bildungs-Gesetze der thierischen und pflanzlichen Formen untersucht, bildet sie einen Theil der Biologie oder Lebenswissenschaft, wenn wir unter diesem Namen, wie es neuerdings geschieht, die gesammte Wissenschaft von den Organismen oder belebten Naturkörpern unseres Erdballs zusammen- fassen. 1) Gewöhnlich wird die Morphologie als der eine der beiden
1) Indem wir den Begriff der Biologie auf diesen umfassendsten und wei- testen Umfang ausdehnen, schliessen wir den engen und beschränkten Sinn aus, in welchem man häufig (insbesondere in der Entomologie) die Biologie mit der Oecologie verwechselt, mit der Wissenschaft von der Oeconomie, von der Lebens- weise, von den äusseren Lebensbeziehungen der Organismen zu einander etc.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0047"n="8"/><fwplace="top"type="header">Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.</fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Zweites Capitel.</hi><lb/>
Verhältniss der Morphologie zu den anderen<lb/>
Naturwissenschaften.</head><lb/><cit><quote><hirendition="#et">„Eine höchst wichtige Betrachtung in der Geschichte der Wis-<lb/>
senschaft ist die, dass sich aus den ersten Anfängen einer Ent-<lb/>
deckung Manches in den Gang des Wissens heran- und durch-<lb/>
zieht, welches den Fortschritt hindert, sogar öfters lähmt. So<lb/>
hat auch jeder Weg, durch den wir zu einer neuen Entdeckung<lb/>
gelangen, Einfluss auf Ansicht und Theorie. Was würden wir<lb/>
von einem Architecten sagen, der durch eine Seitenthüre in einen<lb/>
Palast gekommen wäre, und nun, bei Beschreibung und Darstel-<lb/>
lung eines solchen Gebäudes, Alles auf diese erste untergeordnete<lb/>
Seite beziehen wollte? Und doch geschieht dies in den Wissen-<lb/>
schaften jeden Tag.“<hirendition="#g">Goethe</hi>.</hi></quote></cit><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">I. Morphologie und Biologie.</hi></head><lb/><p>Den Begriff der Morphologie der Organismen haben wir im ersten<lb/>
Capitel dahin bestimmt, dass dieselbe die gesammte Wissenschaft von<lb/>
den inneren und äusseren Formenverhältnissen der belebten Naturkör-<lb/>
per ist; wir haben ihr die Aufgabe gesteckt, diese Formen-Verhältnisse<lb/>
zu erklären und auf bestimmte Naturgesetze zurückzuführen. Wir ha-<lb/>
ben nun zunächst den Umfang und Inhalt jenes Begriffs noch näher<lb/>
zu erläutern, indem wir das Verhältniss der Morphologie zu den an-<lb/>
deren Naturwissenschaften ins Auge fassen.</p><lb/><p>Indem die Morphologie der Organismen die Bildungs-Gesetze der<lb/>
thierischen und pflanzlichen Formen untersucht, bildet sie einen Theil<lb/>
der <hirendition="#g">Biologie</hi> oder Lebenswissenschaft, wenn wir unter diesem Namen,<lb/>
wie es neuerdings geschieht, die <hirendition="#g">gesammte Wissenschaft von den<lb/>
Organismen</hi> oder belebten Naturkörpern unseres Erdballs zusammen-<lb/>
fassen. <noteplace="foot"n="1)">Indem wir den Begriff der <hirendition="#g">Biologie</hi> auf diesen umfassendsten und wei-<lb/>
testen Umfang ausdehnen, schliessen wir den engen und beschränkten Sinn aus,<lb/>
in welchem man häufig (insbesondere in der Entomologie) die Biologie mit der<lb/>
Oecologie verwechselt, mit der Wissenschaft von der Oeconomie, von der Lebens-<lb/>
weise, von den äusseren Lebensbeziehungen der Organismen zu einander etc.</note> Gewöhnlich wird die Morphologie als der eine der beiden<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[8/0047]
Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
Zweites Capitel.
Verhältniss der Morphologie zu den anderen
Naturwissenschaften.
„Eine höchst wichtige Betrachtung in der Geschichte der Wis-
senschaft ist die, dass sich aus den ersten Anfängen einer Ent-
deckung Manches in den Gang des Wissens heran- und durch-
zieht, welches den Fortschritt hindert, sogar öfters lähmt. So
hat auch jeder Weg, durch den wir zu einer neuen Entdeckung
gelangen, Einfluss auf Ansicht und Theorie. Was würden wir
von einem Architecten sagen, der durch eine Seitenthüre in einen
Palast gekommen wäre, und nun, bei Beschreibung und Darstel-
lung eines solchen Gebäudes, Alles auf diese erste untergeordnete
Seite beziehen wollte? Und doch geschieht dies in den Wissen-
schaften jeden Tag.“ Goethe.
I. Morphologie und Biologie.
Den Begriff der Morphologie der Organismen haben wir im ersten
Capitel dahin bestimmt, dass dieselbe die gesammte Wissenschaft von
den inneren und äusseren Formenverhältnissen der belebten Naturkör-
per ist; wir haben ihr die Aufgabe gesteckt, diese Formen-Verhältnisse
zu erklären und auf bestimmte Naturgesetze zurückzuführen. Wir ha-
ben nun zunächst den Umfang und Inhalt jenes Begriffs noch näher
zu erläutern, indem wir das Verhältniss der Morphologie zu den an-
deren Naturwissenschaften ins Auge fassen.
Indem die Morphologie der Organismen die Bildungs-Gesetze der
thierischen und pflanzlichen Formen untersucht, bildet sie einen Theil
der Biologie oder Lebenswissenschaft, wenn wir unter diesem Namen,
wie es neuerdings geschieht, die gesammte Wissenschaft von den
Organismen oder belebten Naturkörpern unseres Erdballs zusammen-
fassen. 1) Gewöhnlich wird die Morphologie als der eine der beiden
1) Indem wir den Begriff der Biologie auf diesen umfassendsten und wei-
testen Umfang ausdehnen, schliessen wir den engen und beschränkten Sinn aus,
in welchem man häufig (insbesondere in der Entomologie) die Biologie mit der
Oecologie verwechselt, mit der Wissenschaft von der Oeconomie, von der Lebens-
weise, von den äusseren Lebensbeziehungen der Organismen zu einander etc.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/47>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.