Haupttheile der Biologie betrachtet und ihr als zweiter Haupttheil der letzteren die Physiologie als die Wissenschaft von den Leistungen der Organismen gegenüber gestellt. Morphologie und Physiologie sind demnach als zwei coordinirte Disciplinen der allumfassenden Biologie untergeordnet. Da jedoch in dieser Beziehung sich sehr verschiedene Auffassungen geltend machen, und da sowohl das Verhältniss der Mor- phologie zur Biologie als dasjenige zur Physiologie vielfach verkannt wird, so erscheint es nothwendig dieses Verhältniss in nähere Erwä- gung zu ziehen und namentlich den Gebietsumfang der beiden coordi- nirten Wissenschaften scharf von einander abzugrenzen.
Wir schicken voraus, dass dieser Versuch, wie jede ähnliche sy- stematisirende Bestimmung, nur einen bedingten Werth hat, indem es niemals möglich ist, die einzelnen Wissensgebiete vollkommen scharf von einander abzugrenzen. Vielmehr greifen dieselben, der Natur der Dinge gemäss, überall so vielfältig in einander über, dass die Grenz- bestimmung der einzelnen Lehrgebiete immer mehr oder weniger dem subjectiven Gutdünken des philosophischen Naturforschers überlassen bleiben muss. Ferner bedingt der beständige Fortschritt aller Wissen- schaften, die ungleich schnelle Entwickelung und ungleich hohe Aus- bildung der einzelnen Disciplinen, der jeweilige Grad des herrschenden Interesses für die eine oder die andere, dass der Umfang der einzel- nen Wissensgebiete ebenso wie ihr Inhalt einer beständigen Verände- rung unterworfen ist. Auch sind ja die Gesichtspunkte der einzelnen Zeiten ebenso wie diejenigen der einzelnen Philosophen verschieden, und mit der fortschreitenden Erkenntniss, mit der sich entwickelnden Denkweise ändert sich zugleich die Sprache und ändern sich deren Begriffe.
Wir würden daher diese schwierigen allgemeinen Fragen gerne umgehen, wenn es nicht für eine klare Auffassung unserer eigenen Aufgabe nothwendig erschiene, den Umfang unseres morphologischen Forschungs-Gebiets scharf abzugrenzen und die grosse Verwirrung der Begriffe, welche hier herrscht, zu lichten. Schon die ganz verschiedene Bedeutung, welche selbst den Begriffen der Morphologie, Physiologie und Biologie zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Seiten der Jetztzeit (z. B. von den sehr verschiedenen Richtungen und Schulen in der Zoologie und Botanik) beigelegt worden ist, zwingt uns zu die- ser Erörterung. Wollen wir zu einer festen Begriffsbestimmung dieser Wissenschaften gelangen, so ist es aber nöthig, von den allgemeinsten Kategorieen der naturwissenschaftlichen Disciplinen auszugehen. Zu- nächst ist hier das Verhältniss der Biologie zur Anorganologie, dem- nächst das Verhältniss der gesammten Morphologie zur Physik und Chemie besonders zu berücksichtigen, und der Begriff dieser Wissen- schaften seinem Umfang und Inhalt nach festzustellen. Denn wir müssen
I. Morphologie und Biologie.
Haupttheile der Biologie betrachtet und ihr als zweiter Haupttheil der letzteren die Physiologie als die Wissenschaft von den Leistungen der Organismen gegenüber gestellt. Morphologie und Physiologie sind demnach als zwei coordinirte Disciplinen der allumfassenden Biologie untergeordnet. Da jedoch in dieser Beziehung sich sehr verschiedene Auffassungen geltend machen, und da sowohl das Verhältniss der Mor- phologie zur Biologie als dasjenige zur Physiologie vielfach verkannt wird, so erscheint es nothwendig dieses Verhältniss in nähere Erwä- gung zu ziehen und namentlich den Gebietsumfang der beiden coordi- nirten Wissenschaften scharf von einander abzugrenzen.
Wir schicken voraus, dass dieser Versuch, wie jede ähnliche sy- stematisirende Bestimmung, nur einen bedingten Werth hat, indem es niemals möglich ist, die einzelnen Wissensgebiete vollkommen scharf von einander abzugrenzen. Vielmehr greifen dieselben, der Natur der Dinge gemäss, überall so vielfältig in einander über, dass die Grenz- bestimmung der einzelnen Lehrgebiete immer mehr oder weniger dem subjectiven Gutdünken des philosophischen Naturforschers überlassen bleiben muss. Ferner bedingt der beständige Fortschritt aller Wissen- schaften, die ungleich schnelle Entwickelung und ungleich hohe Aus- bildung der einzelnen Disciplinen, der jeweilige Grad des herrschenden Interesses für die eine oder die andere, dass der Umfang der einzel- nen Wissensgebiete ebenso wie ihr Inhalt einer beständigen Verände- rung unterworfen ist. Auch sind ja die Gesichtspunkte der einzelnen Zeiten ebenso wie diejenigen der einzelnen Philosophen verschieden, und mit der fortschreitenden Erkenntniss, mit der sich entwickelnden Denkweise ändert sich zugleich die Sprache und ändern sich deren Begriffe.
Wir würden daher diese schwierigen allgemeinen Fragen gerne umgehen, wenn es nicht für eine klare Auffassung unserer eigenen Aufgabe nothwendig erschiene, den Umfang unseres morphologischen Forschungs-Gebiets scharf abzugrenzen und die grosse Verwirrung der Begriffe, welche hier herrscht, zu lichten. Schon die ganz verschiedene Bedeutung, welche selbst den Begriffen der Morphologie, Physiologie und Biologie zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Seiten der Jetztzeit (z. B. von den sehr verschiedenen Richtungen und Schulen in der Zoologie und Botanik) beigelegt worden ist, zwingt uns zu die- ser Erörterung. Wollen wir zu einer festen Begriffsbestimmung dieser Wissenschaften gelangen, so ist es aber nöthig, von den allgemeinsten Kategorieen der naturwissenschaftlichen Disciplinen auszugehen. Zu- nächst ist hier das Verhältniss der Biologie zur Anorganologie, dem- nächst das Verhältniss der gesammten Morphologie zur Physik und Chemie besonders zu berücksichtigen, und der Begriff dieser Wissen- schaften seinem Umfang und Inhalt nach festzustellen. Denn wir müssen
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[9/0048]
I. Morphologie und Biologie.
Haupttheile der Biologie betrachtet und ihr als zweiter Haupttheil der
letzteren die Physiologie als die Wissenschaft von den Leistungen der
Organismen gegenüber gestellt. Morphologie und Physiologie sind
demnach als zwei coordinirte Disciplinen der allumfassenden Biologie
untergeordnet. Da jedoch in dieser Beziehung sich sehr verschiedene
Auffassungen geltend machen, und da sowohl das Verhältniss der Mor-
phologie zur Biologie als dasjenige zur Physiologie vielfach verkannt
wird, so erscheint es nothwendig dieses Verhältniss in nähere Erwä-
gung zu ziehen und namentlich den Gebietsumfang der beiden coordi-
nirten Wissenschaften scharf von einander abzugrenzen.
Wir schicken voraus, dass dieser Versuch, wie jede ähnliche sy-
stematisirende Bestimmung, nur einen bedingten Werth hat, indem es
niemals möglich ist, die einzelnen Wissensgebiete vollkommen scharf
von einander abzugrenzen. Vielmehr greifen dieselben, der Natur der
Dinge gemäss, überall so vielfältig in einander über, dass die Grenz-
bestimmung der einzelnen Lehrgebiete immer mehr oder weniger dem
subjectiven Gutdünken des philosophischen Naturforschers überlassen
bleiben muss. Ferner bedingt der beständige Fortschritt aller Wissen-
schaften, die ungleich schnelle Entwickelung und ungleich hohe Aus-
bildung der einzelnen Disciplinen, der jeweilige Grad des herrschenden
Interesses für die eine oder die andere, dass der Umfang der einzel-
nen Wissensgebiete ebenso wie ihr Inhalt einer beständigen Verände-
rung unterworfen ist. Auch sind ja die Gesichtspunkte der einzelnen
Zeiten ebenso wie diejenigen der einzelnen Philosophen verschieden,
und mit der fortschreitenden Erkenntniss, mit der sich entwickelnden
Denkweise ändert sich zugleich die Sprache und ändern sich deren
Begriffe.
Wir würden daher diese schwierigen allgemeinen Fragen gerne
umgehen, wenn es nicht für eine klare Auffassung unserer eigenen
Aufgabe nothwendig erschiene, den Umfang unseres morphologischen
Forschungs-Gebiets scharf abzugrenzen und die grosse Verwirrung der
Begriffe, welche hier herrscht, zu lichten. Schon die ganz verschiedene
Bedeutung, welche selbst den Begriffen der Morphologie, Physiologie
und Biologie zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Seiten
der Jetztzeit (z. B. von den sehr verschiedenen Richtungen und Schulen
in der Zoologie und Botanik) beigelegt worden ist, zwingt uns zu die-
ser Erörterung. Wollen wir zu einer festen Begriffsbestimmung dieser
Wissenschaften gelangen, so ist es aber nöthig, von den allgemeinsten
Kategorieen der naturwissenschaftlichen Disciplinen auszugehen. Zu-
nächst ist hier das Verhältniss der Biologie zur Anorganologie, dem-
nächst das Verhältniss der gesammten Morphologie zur Physik und
Chemie besonders zu berücksichtigen, und der Begriff dieser Wissen-
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/48>, abgerufen am 21.11.2024.
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