Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
Resultat einer Function der Materie. Wir müssen daher, wollen wir die übliche Antithese von Form und Function festhalten, die Leistung, Kraft oder Function bestimmen als die Materie im Zustande der Be- wegung, welche durch das Uebergewicht einer oder mehrerer ihrer bewegenden Kräfte über die anderen entsteht. Die Wissenschaft von den Leistungen oder Functionen, welche wir oben als Kraftlehre oder Physik bezeichnet haben, würde dann wesentlich die Dynamik der Materie sein.
Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die Gesammtwissenschaft von den irdischen Naturkörpern eintheilen, wenn wir also von den eigenthümlichen "Lebenserscheinungen" ganz absehen und als Einthei- lungsprincip lediglich die Anwesenheit oder den Mangel des Gleich- gewichts der der Materie inhärirenden Kräfte betrachten, so spaltet sich die gesammte Naturwissenschaft in die beiden coordinirten Haupt- zweige der Formenlehre oder Gleichgewichtslehre (Morphologie, Statik) und der Functionslehre oder Bewegungslehre (Physik, Dynamik).
III. Morphologie und Chemie.
Von der so eben begründeten Anschauungsweise wird die Materie selbst als gegeben und bekannt vorausgesetzt, und es wird mithin die Chemie oder Stofflehre, welche wir oben als die erste von den drei Fundamental-Wissenschaften aufgeführt haben, nicht mit in Betracht gezogen. Es entsteht nun aber die Frage, welche Stellung die Che- mie den beiden coordinirten Zweigen der Statik oder Morphologie und der Dynamik oder Physik gegenüber eigentlich einnimmt. Die Beant- wortung dieser Frage ist für uns desshalb von grosser Wichtigkeit, weil auch ein Theil der Chemie als zur Morphologie der Organismen gehörig beansprucht worden ist. Offenbar liegen hier drei Möglich- keiten vor: Entweder ist die Chemie der beiden coordinirten Discipli- nen, der Dynamik (Physik) und der Statik (Morphologie) übergeordnet, oder sie ist ihnen als dritter gleichwerthiger Zweig beigeordnet, oder sie ist ihnen beiden oder einer von ihnen untergeordnet. Jede dieser drei möglichen Auffassungen lässt sich von ihrem eigenthümlichen und besonderen Standpunkte aus rechtfertigen.
I. Im ersten Falle, wenn man, wie es von mehreren Seiten, namentlich von manchen Physiologen geschieht, Statik und Dynamik als die beiden coordinirten Hauptzweige der Naturwissenschaft auffasst, welche der Stofflehre untergeordnet sind und ihren Inhalt bilden, er- scheint die Chemie im allgemeinsten Sinne, als die allumfassende Na- turwissenschaft selbst, als die einzige Fundamentalwissenschaft, welche alle übrigen in sich begreift. Diese Auffassung lässt sich damit recht- fertigen, dass die Kenntniss des Stoffs der Untersuchung aller Formen, aller Bewegungserscheinungen vorausgehen muss, dass in der That alle
Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
Resultat einer Function der Materie. Wir müssen daher, wollen wir die übliche Antithese von Form und Function festhalten, die Leistung, Kraft oder Function bestimmen als die Materie im Zustande der Be- wegung, welche durch das Uebergewicht einer oder mehrerer ihrer bewegenden Kräfte über die anderen entsteht. Die Wissenschaft von den Leistungen oder Functionen, welche wir oben als Kraftlehre oder Physik bezeichnet haben, würde dann wesentlich die Dynamik der Materie sein.
Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die Gesammtwissenschaft von den irdischen Naturkörpern eintheilen, wenn wir also von den eigenthümlichen „Lebenserscheinungen“ ganz absehen und als Einthei- lungsprincip lediglich die Anwesenheit oder den Mangel des Gleich- gewichts der der Materie inhärirenden Kräfte betrachten, so spaltet sich die gesammte Naturwissenschaft in die beiden coordinirten Haupt- zweige der Formenlehre oder Gleichgewichtslehre (Morphologie, Statik) und der Functionslehre oder Bewegungslehre (Physik, Dynamik).
III. Morphologie und Chemie.
Von der so eben begründeten Anschauungsweise wird die Materie selbst als gegeben und bekannt vorausgesetzt, und es wird mithin die Chemie oder Stofflehre, welche wir oben als die erste von den drei Fundamental-Wissenschaften aufgeführt haben, nicht mit in Betracht gezogen. Es entsteht nun aber die Frage, welche Stellung die Che- mie den beiden coordinirten Zweigen der Statik oder Morphologie und der Dynamik oder Physik gegenüber eigentlich einnimmt. Die Beant- wortung dieser Frage ist für uns desshalb von grosser Wichtigkeit, weil auch ein Theil der Chemie als zur Morphologie der Organismen gehörig beansprucht worden ist. Offenbar liegen hier drei Möglich- keiten vor: Entweder ist die Chemie der beiden coordinirten Discipli- nen, der Dynamik (Physik) und der Statik (Morphologie) übergeordnet, oder sie ist ihnen als dritter gleichwerthiger Zweig beigeordnet, oder sie ist ihnen beiden oder einer von ihnen untergeordnet. Jede dieser drei möglichen Auffassungen lässt sich von ihrem eigenthümlichen und besonderen Standpunkte aus rechtfertigen.
I. Im ersten Falle, wenn man, wie es von mehreren Seiten, namentlich von manchen Physiologen geschieht, Statik und Dynamik als die beiden coordinirten Hauptzweige der Naturwissenschaft auffasst, welche der Stofflehre untergeordnet sind und ihren Inhalt bilden, er- scheint die Chemie im allgemeinsten Sinne, als die allumfassende Na- turwissenschaft selbst, als die einzige Fundamentalwissenschaft, welche alle übrigen in sich begreift. Diese Auffassung lässt sich damit recht- fertigen, dass die Kenntniss des Stoffs der Untersuchung aller Formen, aller Bewegungserscheinungen vorausgehen muss, dass in der That alle
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Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
Resultat einer Function der Materie. Wir müssen daher, wollen wir
die übliche Antithese von Form und Function festhalten, die Leistung,
Kraft oder Function bestimmen als die Materie im Zustande der Be-
wegung, welche durch das Uebergewicht einer oder mehrerer ihrer
bewegenden Kräfte über die anderen entsteht. Die Wissenschaft von
den Leistungen oder Functionen, welche wir oben als Kraftlehre oder
Physik bezeichnet haben, würde dann wesentlich die Dynamik der
Materie sein.
Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die Gesammtwissenschaft
von den irdischen Naturkörpern eintheilen, wenn wir also von den
eigenthümlichen „Lebenserscheinungen“ ganz absehen und als Einthei-
lungsprincip lediglich die Anwesenheit oder den Mangel des Gleich-
gewichts der der Materie inhärirenden Kräfte betrachten, so spaltet
sich die gesammte Naturwissenschaft in die beiden coordinirten Haupt-
zweige der Formenlehre oder Gleichgewichtslehre (Morphologie, Statik)
und der Functionslehre oder Bewegungslehre (Physik, Dynamik).
III. Morphologie und Chemie.
Von der so eben begründeten Anschauungsweise wird die Materie
selbst als gegeben und bekannt vorausgesetzt, und es wird mithin die
Chemie oder Stofflehre, welche wir oben als die erste von den drei
Fundamental-Wissenschaften aufgeführt haben, nicht mit in Betracht
gezogen. Es entsteht nun aber die Frage, welche Stellung die Che-
mie den beiden coordinirten Zweigen der Statik oder Morphologie und
der Dynamik oder Physik gegenüber eigentlich einnimmt. Die Beant-
wortung dieser Frage ist für uns desshalb von grosser Wichtigkeit,
weil auch ein Theil der Chemie als zur Morphologie der Organismen
gehörig beansprucht worden ist. Offenbar liegen hier drei Möglich-
keiten vor: Entweder ist die Chemie der beiden coordinirten Discipli-
nen, der Dynamik (Physik) und der Statik (Morphologie) übergeordnet,
oder sie ist ihnen als dritter gleichwerthiger Zweig beigeordnet, oder
sie ist ihnen beiden oder einer von ihnen untergeordnet. Jede dieser
drei möglichen Auffassungen lässt sich von ihrem eigenthümlichen und
besonderen Standpunkte aus rechtfertigen.
I. Im ersten Falle, wenn man, wie es von mehreren Seiten,
namentlich von manchen Physiologen geschieht, Statik und Dynamik als
die beiden coordinirten Hauptzweige der Naturwissenschaft auffasst,
welche der Stofflehre untergeordnet sind und ihren Inhalt bilden, er-
scheint die Chemie im allgemeinsten Sinne, als die allumfassende Na-
turwissenschaft selbst, als die einzige Fundamentalwissenschaft, welche
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/51>, abgerufen am 16.02.2025.
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