als ein System von bewegenden Kräften, welche der Materie inhäriren und von dieser nicht trennbar sind. Wir kennen keine Kraft ohne Materie, ohne materielles Substrat, und keine Materie ohne Kraft, ohne Function. Die Gesammtheit der Functionen eines Theils der Materie oder eines Naturkörpers ist nichts Anderes, als die Ge- sammtheit der Bewegungs-Erscheinungen, welche an demselben als Re- sultanten auftreten aus seinen eigenen Kräften und den Kräften derje- nigen anderen Naturkörper oder Theile der Materie, welche mit ihm in Wechselwirkung treten.
Da die gesammte Natur nichts Anderes als ein System von be- wegenden Kräften ist, so folgt hieraus, dass wirkliche Ruhe nirgends existirt und dass da, wo scheinbare Ruhe in einem Theile der Materie vorhanden ist, diese bloss die Resultante aus der Wechselwirkung der verschiedenen bewegenden Kräfte ist, die in diesem Theile der Materie zusammentreffen und sich das Gleichgewicht halten. Sobald das Gleichgewicht aufhört, sobald eine der bewegenden Kräfte über die Andern das Uebergewicht gewinnt, tritt die Bewegung als solche wieder in die Erscheinung. Man kann demgemäss jeden Naturkörper entweder im Zustande des Gleichgewichts der bewegenden Kräfte, d. h. im Momente der Ruhe, oder im Zustande der Bewegung, d. h. im Momente des Uebergewichts einer oder mehrerer der bewegenden Kräfte untersuchen. Hierauf beruht die Eintheilung der gesammten Naturwissenschaft in eine statische und in eine dynamische. Die Statik oder Gleichgewichtslehre will die Gesetze erkennen, unter de- nen das Gleichgewicht der Bewegungen zu Stande kommt und untersucht das Resultat dieses Gleichgewichts. Die Dynamik oder Bewegungslehre dagegen untersucht die Gesetze der Bewegungen, welche in die Erscheinung treten, sobald das Gleichgewicht aller der Materie inhärirenden Kräfte durch das Uebergewicht einer oder mehrerer derselben vernichtet wird, und sucht das Resultat dieses Ueber- gewichts zu erklären.
Setzen wir nun die Materie der Naturkörper als das ursprünglich Gegebene voraus und suchen das Verhältniss der Form der Materie zu den beständig in ihr thätigen bewegenden Kräften mit Rücksicht auf die eben gegebenen Erläuterungen näher zu bestimmen, so wird uns sofort klar, dass die jeweilige Form der Materie nichts Anderes ist, als das in die Erscheinung tretende Resultat des Gleichgewichts aller bewegenden Kräfte in einem bestimmten Momente. Die Formen- lehre oder Morphologie der Naturkörper im weitesten Sinne des Wortes ist mithin die Statik der Materie.
Wenn nun nach dieser Ableitung die Form als die Materie im Zustande des Gleichgewichts ihrer bewegenden Kräfte zu definiren ist, so erscheint sie streng genommen selbst schon als das
II. Morphologie und Physik.
als ein System von bewegenden Kräften, welche der Materie inhäriren und von dieser nicht trennbar sind. Wir kennen keine Kraft ohne Materie, ohne materielles Substrat, und keine Materie ohne Kraft, ohne Function. Die Gesammtheit der Functionen eines Theils der Materie oder eines Naturkörpers ist nichts Anderes, als die Ge- sammtheit der Bewegungs-Erscheinungen, welche an demselben als Re- sultanten auftreten aus seinen eigenen Kräften und den Kräften derje- nigen anderen Naturkörper oder Theile der Materie, welche mit ihm in Wechselwirkung treten.
Da die gesammte Natur nichts Anderes als ein System von be- wegenden Kräften ist, so folgt hieraus, dass wirkliche Ruhe nirgends existirt und dass da, wo scheinbare Ruhe in einem Theile der Materie vorhanden ist, diese bloss die Resultante aus der Wechselwirkung der verschiedenen bewegenden Kräfte ist, die in diesem Theile der Materie zusammentreffen und sich das Gleichgewicht halten. Sobald das Gleichgewicht aufhört, sobald eine der bewegenden Kräfte über die Andern das Uebergewicht gewinnt, tritt die Bewegung als solche wieder in die Erscheinung. Man kann demgemäss jeden Naturkörper entweder im Zustande des Gleichgewichts der bewegenden Kräfte, d. h. im Momente der Ruhe, oder im Zustande der Bewegung, d. h. im Momente des Uebergewichts einer oder mehrerer der bewegenden Kräfte untersuchen. Hierauf beruht die Eintheilung der gesammten Naturwissenschaft in eine statische und in eine dynamische. Die Statik oder Gleichgewichtslehre will die Gesetze erkennen, unter de- nen das Gleichgewicht der Bewegungen zu Stande kommt und untersucht das Resultat dieses Gleichgewichts. Die Dynamik oder Bewegungslehre dagegen untersucht die Gesetze der Bewegungen, welche in die Erscheinung treten, sobald das Gleichgewicht aller der Materie inhärirenden Kräfte durch das Uebergewicht einer oder mehrerer derselben vernichtet wird, und sucht das Resultat dieses Ueber- gewichts zu erklären.
Setzen wir nun die Materie der Naturkörper als das ursprünglich Gegebene voraus und suchen das Verhältniss der Form der Materie zu den beständig in ihr thätigen bewegenden Kräften mit Rücksicht auf die eben gegebenen Erläuterungen näher zu bestimmen, so wird uns sofort klar, dass die jeweilige Form der Materie nichts Anderes ist, als das in die Erscheinung tretende Resultat des Gleichgewichts aller bewegenden Kräfte in einem bestimmten Momente. Die Formen- lehre oder Morphologie der Naturkörper im weitesten Sinne des Wortes ist mithin die Statik der Materie.
Wenn nun nach dieser Ableitung die Form als die Materie im Zustande des Gleichgewichts ihrer bewegenden Kräfte zu definiren ist, so erscheint sie streng genommen selbst schon als das
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II. Morphologie und Physik.
als ein System von bewegenden Kräften, welche der Materie
inhäriren und von dieser nicht trennbar sind. Wir kennen keine
Kraft ohne Materie, ohne materielles Substrat, und keine Materie ohne
Kraft, ohne Function. Die Gesammtheit der Functionen eines Theils
der Materie oder eines Naturkörpers ist nichts Anderes, als die Ge-
sammtheit der Bewegungs-Erscheinungen, welche an demselben als Re-
sultanten auftreten aus seinen eigenen Kräften und den Kräften derje-
nigen anderen Naturkörper oder Theile der Materie, welche mit ihm
in Wechselwirkung treten.
Da die gesammte Natur nichts Anderes als ein System von be-
wegenden Kräften ist, so folgt hieraus, dass wirkliche Ruhe nirgends
existirt und dass da, wo scheinbare Ruhe in einem Theile der Materie
vorhanden ist, diese bloss die Resultante aus der Wechselwirkung der
verschiedenen bewegenden Kräfte ist, die in diesem Theile der
Materie zusammentreffen und sich das Gleichgewicht halten. Sobald
das Gleichgewicht aufhört, sobald eine der bewegenden Kräfte über
die Andern das Uebergewicht gewinnt, tritt die Bewegung als solche
wieder in die Erscheinung. Man kann demgemäss jeden Naturkörper
entweder im Zustande des Gleichgewichts der bewegenden Kräfte,
d. h. im Momente der Ruhe, oder im Zustande der Bewegung, d. h.
im Momente des Uebergewichts einer oder mehrerer der bewegenden
Kräfte untersuchen. Hierauf beruht die Eintheilung der gesammten
Naturwissenschaft in eine statische und in eine dynamische. Die
Statik oder Gleichgewichtslehre will die Gesetze erkennen, unter de-
nen das Gleichgewicht der Bewegungen zu Stande kommt und
untersucht das Resultat dieses Gleichgewichts. Die Dynamik oder
Bewegungslehre dagegen untersucht die Gesetze der Bewegungen,
welche in die Erscheinung treten, sobald das Gleichgewicht aller der
Materie inhärirenden Kräfte durch das Uebergewicht einer oder
mehrerer derselben vernichtet wird, und sucht das Resultat dieses Ueber-
gewichts zu erklären.
Setzen wir nun die Materie der Naturkörper als das ursprünglich
Gegebene voraus und suchen das Verhältniss der Form der Materie
zu den beständig in ihr thätigen bewegenden Kräften mit Rücksicht
auf die eben gegebenen Erläuterungen näher zu bestimmen, so wird
uns sofort klar, dass die jeweilige Form der Materie nichts Anderes
ist, als das in die Erscheinung tretende Resultat des Gleichgewichts
aller bewegenden Kräfte in einem bestimmten Momente. Die Formen-
lehre oder Morphologie der Naturkörper im weitesten Sinne des
Wortes ist mithin die Statik der Materie.
Wenn nun nach dieser Ableitung die Form als die Materie
im Zustande des Gleichgewichts ihrer bewegenden Kräfte
zu definiren ist, so erscheint sie streng genommen selbst schon als das
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/50>, abgerufen am 03.12.2024.
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