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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
oder doch wenigstens sein soll. Beide verfolgen die hohe Aufgabe,
die beobachteten Thatsachen zu erklären, d. h. auf allgemeine Natur-
gesetze zurückzuführen. Die Physiologie oder Biodynamik be-
schreibt und erklärt die Leistungen
(Functionen, Bewegungen,
Kräfte) der Organismen. 1) Die Morphologie beschreibt und er-
klärt die Formen
(äussere Gestalt und innere formelle Zusammen-
setzung) der Organismen. Das Ziel wenigstens liegt klar vor ihr, und
wenn sie es zeitweise aus den Augen zu verlieren scheint, so ist es
die Schuld ihrer jeweiligen Vertreter. Morphologie und Physio-
logie sind demnach vollkommen coordinirte Wissenschaften,

in gleichem Maasse und auf gleicher Stufe der Biologie untergeordnet,
deren Inhalt sie bilden.

Dieses beigeordnete schwesterliche Verhältniss der Morphologie
zur Physiologie wird auch durchaus nicht geändert, wenn wir die
Chemie nicht (wie es so eben geschah) als coordinirt der Physik und
Morphologie betrachten, sondern sie diesen beiden Disciplinen unter-
ordnen, wie es in der vorhergehenden Betrachtung (p. 13 sub III) ge-
schehen ist. Es ergiebt sich dann nämlich, wenn wir die biologische
Chemie oder die Chemie der Organismen in die beiden Aeste der
statischen und dynamischen Chemie spalten, dass wir die statische

1) Wenn wir hier einerseits der Physiologie der Neuzeit zugestanden haben,
dass sie die organische Morphologie an bewusster Erkenntniss ihres Zieles und
an klarem Verständniss der allein richtigen Methode weit überflügelt hat, so
müssen wir doch andererseits darauf aufmerksam machen, dass sie in anderen
Beziehungen weit hinter der Morphologie zurück ist. Insbesondere ist hier der
thierischen Physiologie sowohl die allgemeine Vernachlässigung der Ent-
stehungs-Verhältnisse der Functionen
(embryonale Entwickelung und
Differenzirung der Lebens-Erscheinungen) als der noch auffallendere Mangel
an vergleichender Betrachtung der Functionen
(Ableitung der com-
plicirten Lebens-Erscheinungen höherer aus den einfacheren Functionen der ver-
wandten niederen Organismen) zum Vorwurfe zu machen. Von einer genetischen
Physiologie kann heutzutage noch ebenso wenig, als von einer vergleichenden
Physiologie die Rede sein; mindestens befinden sich Beide noch in der ersten
Kindheit. Und doch ist die genetische sowohl als die vergleichende
Methode für die Physiologie ebenso unentbehrlich, als für die Morphologie, wo
dies längst anerkannt ist. In keinem Gebiete der Physiologie wird sich diese
Wahrheit schlagender zeigen, als in demjenigen Theile der Physiologie des Cen-
tral-Nervensystems, welchen man gewöhnlich als "Psychologie" den nicht phy-
siologisch gebildeten sogenannten "Philosophen" überlassen hat. Sobald man
sich entschliessen wird, hier die genetische und die vergleichende Untersuchungs-
methode in der weitesten Ausdehnung anzuwenden, wird dieses gänzlich unculti-
virte und wüste Gebiet die reichsten und überraschendsten Früchte zur Reife
bringen. Niemals aber wird man z. B. zu einer Psychologie des reifen Menschen
gelangen, wenn man dieselbe nicht aus der genetischen Psychologie des Kin-
des, und aus der vergleichenden Psychologie der Wirbelthiere ableitet.

Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften.
oder doch wenigstens sein soll. Beide verfolgen die hohe Aufgabe,
die beobachteten Thatsachen zu erklären, d. h. auf allgemeine Natur-
gesetze zurückzuführen. Die Physiologie oder Biodynamik be-
schreibt und erklärt die Leistungen
(Functionen, Bewegungen,
Kräfte) der Organismen. 1) Die Morphologie beschreibt und er-
klärt die Formen
(äussere Gestalt und innere formelle Zusammen-
setzung) der Organismen. Das Ziel wenigstens liegt klar vor ihr, und
wenn sie es zeitweise aus den Augen zu verlieren scheint, so ist es
die Schuld ihrer jeweiligen Vertreter. Morphologie und Physio-
logie sind demnach vollkommen coordinirte Wissenschaften,

in gleichem Maasse und auf gleicher Stufe der Biologie untergeordnet,
deren Inhalt sie bilden.

Dieses beigeordnete schwesterliche Verhältniss der Morphologie
zur Physiologie wird auch durchaus nicht geändert, wenn wir die
Chemie nicht (wie es so eben geschah) als coordinirt der Physik und
Morphologie betrachten, sondern sie diesen beiden Disciplinen unter-
ordnen, wie es in der vorhergehenden Betrachtung (p. 13 sub III) ge-
schehen ist. Es ergiebt sich dann nämlich, wenn wir die biologische
Chemie oder die Chemie der Organismen in die beiden Aeste der
statischen und dynamischen Chemie spalten, dass wir die statische

1) Wenn wir hier einerseits der Physiologie der Neuzeit zugestanden haben,
dass sie die organische Morphologie an bewusster Erkenntniss ihres Zieles und
an klarem Verständniss der allein richtigen Methode weit überflügelt hat, so
müssen wir doch andererseits darauf aufmerksam machen, dass sie in anderen
Beziehungen weit hinter der Morphologie zurück ist. Insbesondere ist hier der
thierischen Physiologie sowohl die allgemeine Vernachlässigung der Ent-
stehungs-Verhältnisse der Functionen
(embryonale Entwickelung und
Differenzirung der Lebens-Erscheinungen) als der noch auffallendere Mangel
an vergleichender Betrachtung der Functionen
(Ableitung der com-
plicirten Lebens-Erscheinungen höherer aus den einfacheren Functionen der ver-
wandten niederen Organismen) zum Vorwurfe zu machen. Von einer genetischen
Physiologie kann heutzutage noch ebenso wenig, als von einer vergleichenden
Physiologie die Rede sein; mindestens befinden sich Beide noch in der ersten
Kindheit. Und doch ist die genetische sowohl als die vergleichende
Methode für die Physiologie ebenso unentbehrlich, als für die Morphologie, wo
dies längst anerkannt ist. In keinem Gebiete der Physiologie wird sich diese
Wahrheit schlagender zeigen, als in demjenigen Theile der Physiologie des Cen-
tral-Nervensystems, welchen man gewöhnlich als „Psychologie“ den nicht phy-
siologisch gebildeten sogenannten „Philosophen“ überlassen hat. Sobald man
sich entschliessen wird, hier die genetische und die vergleichende Untersuchungs-
methode in der weitesten Ausdehnung anzuwenden, wird dieses gänzlich unculti-
virte und wüste Gebiet die reichsten und überraschendsten Früchte zur Reife
bringen. Niemals aber wird man z. B. zu einer Psychologie des reifen Menschen
gelangen, wenn man dieselbe nicht aus der genetischen Psychologie des Kin-
des, und aus der vergleichenden Psychologie der Wirbelthiere ableitet.
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[20/0059] Verhältniss der Morphologie zu den anderen Naturwissenschaften. oder doch wenigstens sein soll. Beide verfolgen die hohe Aufgabe, die beobachteten Thatsachen zu erklären, d. h. auf allgemeine Natur- gesetze zurückzuführen. Die Physiologie oder Biodynamik be- schreibt und erklärt die Leistungen (Functionen, Bewegungen, Kräfte) der Organismen. 1) Die Morphologie beschreibt und er- klärt die Formen (äussere Gestalt und innere formelle Zusammen- setzung) der Organismen. Das Ziel wenigstens liegt klar vor ihr, und wenn sie es zeitweise aus den Augen zu verlieren scheint, so ist es die Schuld ihrer jeweiligen Vertreter. Morphologie und Physio- logie sind demnach vollkommen coordinirte Wissenschaften, in gleichem Maasse und auf gleicher Stufe der Biologie untergeordnet, deren Inhalt sie bilden. Dieses beigeordnete schwesterliche Verhältniss der Morphologie zur Physiologie wird auch durchaus nicht geändert, wenn wir die Chemie nicht (wie es so eben geschah) als coordinirt der Physik und Morphologie betrachten, sondern sie diesen beiden Disciplinen unter- ordnen, wie es in der vorhergehenden Betrachtung (p. 13 sub III) ge- schehen ist. Es ergiebt sich dann nämlich, wenn wir die biologische Chemie oder die Chemie der Organismen in die beiden Aeste der statischen und dynamischen Chemie spalten, dass wir die statische 1) Wenn wir hier einerseits der Physiologie der Neuzeit zugestanden haben, dass sie die organische Morphologie an bewusster Erkenntniss ihres Zieles und an klarem Verständniss der allein richtigen Methode weit überflügelt hat, so müssen wir doch andererseits darauf aufmerksam machen, dass sie in anderen Beziehungen weit hinter der Morphologie zurück ist. Insbesondere ist hier der thierischen Physiologie sowohl die allgemeine Vernachlässigung der Ent- stehungs-Verhältnisse der Functionen (embryonale Entwickelung und Differenzirung der Lebens-Erscheinungen) als der noch auffallendere Mangel an vergleichender Betrachtung der Functionen (Ableitung der com- plicirten Lebens-Erscheinungen höherer aus den einfacheren Functionen der ver- wandten niederen Organismen) zum Vorwurfe zu machen. Von einer genetischen Physiologie kann heutzutage noch ebenso wenig, als von einer vergleichenden Physiologie die Rede sein; mindestens befinden sich Beide noch in der ersten Kindheit. Und doch ist die genetische sowohl als die vergleichende Methode für die Physiologie ebenso unentbehrlich, als für die Morphologie, wo dies längst anerkannt ist. In keinem Gebiete der Physiologie wird sich diese Wahrheit schlagender zeigen, als in demjenigen Theile der Physiologie des Cen- tral-Nervensystems, welchen man gewöhnlich als „Psychologie“ den nicht phy- siologisch gebildeten sogenannten „Philosophen“ überlassen hat. Sobald man sich entschliessen wird, hier die genetische und die vergleichende Untersuchungs- methode in der weitesten Ausdehnung anzuwenden, wird dieses gänzlich unculti- virte und wüste Gebiet die reichsten und überraschendsten Früchte zur Reife bringen. Niemals aber wird man z. B. zu einer Psychologie des reifen Menschen gelangen, wenn man dieselbe nicht aus der genetischen Psychologie des Kin- des, und aus der vergleichenden Psychologie der Wirbelthiere ableitet.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/59>, abgerufen am 21.11.2024.