Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
dass mit der stereometrischen Ausmessung derselben die Aufgabe ihrer morphologischen Erkenntniss völlig gelöst ist. Die anorganischen Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und bestimmten messbaren Winkeln begrenzt. Die Hauptaufgabe der Kry- stallographie, welche den grössten Theil der abiologischen Morphologie ausmacht, ist daher die Ausmessung und Berechnung dieser relativ einfachen geometrischen Form-Verhältnisse.
In vollem Gegensatz hierzu sind organische Individuen, deren Form einer stereometrischen Behandlung zugänglich ist, seltene Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümmten Flächen, ge- bogenen Linien und unmessbaren sphärischen Winkeln begrenzt. Die Curven, welche hier sich finden, sind so zusammengesetzter und dabei meist scheinbar so unbestimmter Natur, dass ihre Ausmessung und Berechnung als ein unlösbares Problem erscheint. Zwar wird die stereometrische Behandlung der organischen Formen sehr häufig als Ziel einer späteren vollendeteren, exact-mathematischen Methode ihrer Untersuchung hingestellt. Indessen müssen wir unseres Theils diese weit verbreitete Ansicht als eine irrige bezeichnen. Es wird nämlich durch die unbegrenzte Variabilität aller organischen Formen, welche im sechsten Buche erläutert werden wird, bereits die Möglich- keit einer exacten geometrischen Behandlung, wie sie die Krystallo- graphie durchführt, von vornherein ausgeschlossen. Da nämlich factisch schon nächstverwandte Individuen einer und derselben Species, z. B. verschiedene Geschwister die von einem und demselben Elternpaar ab- stammen, in Beziehung auf äussere und innere Form unendlich viele, gröbere und feinere individuelle Verschiedenheiten zeigen, da niemals bei allen Individuen einer und derselben organischen Species sämmt- liche gekrümmte Flächen, Linien und Winkel des Körpers und seiner einzelnen Theile absolut identisch, sondern stets nur annähernd gleich oder ähnlich sind, so ist eine derartige absolute mathematische Betrachtungsweise der organischen Form, wie sie gewöhnlich gefordert wird, gar nicht möglich; und wenn man selbst die compli- cirten Curven etc. bei allen einzelnen Individuen berechnen und dann vergleichen könnte, so hätte eine solche mühsame Arbeit nicht das mindeste Interesse und die Arbeit selbst wäre eine wahre Danaiden- Arbeit. Dagegen ist eine anderweitige mathematische Betrachtungs- weise der organischen Formen, welche der krystallographischen Methode ähnlich, aber doch wesentlich verschieden ist, allerdings möglich. Es lassen sich nämlich, wie das vierte Buch unseres Werkes zeigen wird, gewisse einfache stereometrische Grundformen der Organismen auffinden, welche unter den scheinbar ganz unzugänglichen Curven- systemen der unberechenbar complicirten Formen der organischen In- dividuen versteckt liegen. Diese neue Lehre von den Grund-
Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
dass mit der stereometrischen Ausmessung derselben die Aufgabe ihrer morphologischen Erkenntniss völlig gelöst ist. Die anorganischen Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und bestimmten messbaren Winkeln begrenzt. Die Hauptaufgabe der Kry- stallographie, welche den grössten Theil der abiologischen Morphologie ausmacht, ist daher die Ausmessung und Berechnung dieser relativ einfachen geometrischen Form-Verhältnisse.
In vollem Gegensatz hierzu sind organische Individuen, deren Form einer stereometrischen Behandlung zugänglich ist, seltene Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümmten Flächen, ge- bogenen Linien und unmessbaren sphärischen Winkeln begrenzt. Die Curven, welche hier sich finden, sind so zusammengesetzter und dabei meist scheinbar so unbestimmter Natur, dass ihre Ausmessung und Berechnung als ein unlösbares Problem erscheint. Zwar wird die stereometrische Behandlung der organischen Formen sehr häufig als Ziel einer späteren vollendeteren, exact-mathematischen Methode ihrer Untersuchung hingestellt. Indessen müssen wir unseres Theils diese weit verbreitete Ansicht als eine irrige bezeichnen. Es wird nämlich durch die unbegrenzte Variabilität aller organischen Formen, welche im sechsten Buche erläutert werden wird, bereits die Möglich- keit einer exacten geometrischen Behandlung, wie sie die Krystallo- graphie durchführt, von vornherein ausgeschlossen. Da nämlich factisch schon nächstverwandte Individuen einer und derselben Species, z. B. verschiedene Geschwister die von einem und demselben Elternpaar ab- stammen, in Beziehung auf äussere und innere Form unendlich viele, gröbere und feinere individuelle Verschiedenheiten zeigen, da niemals bei allen Individuen einer und derselben organischen Species sämmt- liche gekrümmte Flächen, Linien und Winkel des Körpers und seiner einzelnen Theile absolut identisch, sondern stets nur annähernd gleich oder ähnlich sind, so ist eine derartige absolute mathematische Betrachtungsweise der organischen Form, wie sie gewöhnlich gefordert wird, gar nicht möglich; und wenn man selbst die compli- cirten Curven etc. bei allen einzelnen Individuen berechnen und dann vergleichen könnte, so hätte eine solche mühsame Arbeit nicht das mindeste Interesse und die Arbeit selbst wäre eine wahre Danaiden- Arbeit. Dagegen ist eine anderweitige mathematische Betrachtungs- weise der organischen Formen, welche der krystallographischen Methode ähnlich, aber doch wesentlich verschieden ist, allerdings möglich. Es lassen sich nämlich, wie das vierte Buch unseres Werkes zeigen wird, gewisse einfache stereometrische Grundformen der Organismen auffinden, welche unter den scheinbar ganz unzugänglichen Curven- systemen der unberechenbar complicirten Formen der organischen In- dividuen versteckt liegen. Diese neue Lehre von den Grund-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0065"n="26"/><fwplace="top"type="header">Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.</fw><lb/>
dass mit der <hirendition="#g">stereometrischen</hi> Ausmessung derselben die Aufgabe<lb/>
ihrer morphologischen Erkenntniss völlig gelöst ist. Die anorganischen<lb/>
Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und<lb/>
bestimmten messbaren Winkeln begrenzt. Die Hauptaufgabe der Kry-<lb/>
stallographie, welche den grössten Theil der abiologischen Morphologie<lb/>
ausmacht, ist daher die Ausmessung und Berechnung dieser relativ<lb/>
einfachen geometrischen Form-Verhältnisse.</p><lb/><p>In vollem Gegensatz hierzu sind <hirendition="#g">organische Individuen,</hi> deren<lb/>
Form einer <hirendition="#g">stereometrischen</hi> Behandlung zugänglich ist, seltene<lb/>
Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümmten Flächen, ge-<lb/>
bogenen Linien und unmessbaren sphärischen Winkeln begrenzt. Die<lb/>
Curven, welche hier sich finden, sind so zusammengesetzter und dabei<lb/>
meist scheinbar so unbestimmter Natur, dass ihre Ausmessung und<lb/>
Berechnung als ein unlösbares Problem erscheint. Zwar wird die<lb/>
stereometrische Behandlung der organischen Formen sehr häufig als<lb/>
Ziel einer späteren vollendeteren, exact-mathematischen Methode ihrer<lb/>
Untersuchung hingestellt. Indessen müssen wir unseres Theils diese<lb/>
weit verbreitete Ansicht als eine irrige bezeichnen. Es wird nämlich<lb/>
durch die <hirendition="#g">unbegrenzte Variabilität</hi> aller organischen Formen,<lb/>
welche im sechsten Buche erläutert werden wird, bereits die Möglich-<lb/>
keit einer exacten geometrischen Behandlung, wie sie die Krystallo-<lb/>
graphie durchführt, von vornherein ausgeschlossen. Da nämlich factisch<lb/>
schon nächstverwandte Individuen einer und derselben Species, z. B.<lb/>
verschiedene Geschwister die von einem und demselben Elternpaar ab-<lb/>
stammen, in Beziehung auf äussere und innere Form unendlich viele,<lb/>
gröbere und feinere individuelle Verschiedenheiten zeigen, da niemals<lb/>
bei allen Individuen einer und derselben organischen Species sämmt-<lb/>
liche gekrümmte Flächen, Linien und Winkel des Körpers und seiner<lb/>
einzelnen Theile absolut identisch, sondern stets nur <hirendition="#g">annähernd</hi> gleich<lb/>
oder ähnlich sind, so ist eine derartige <hirendition="#g">absolute mathematische<lb/>
Betrachtungsweise der organischen Form,</hi> wie sie gewöhnlich<lb/>
gefordert wird, <hirendition="#g">gar nicht möglich;</hi> und wenn man selbst die compli-<lb/>
cirten Curven etc. bei allen einzelnen Individuen berechnen und dann<lb/>
vergleichen könnte, so hätte eine solche mühsame Arbeit nicht das<lb/>
mindeste Interesse und die Arbeit selbst wäre eine wahre Danaiden-<lb/>
Arbeit. Dagegen ist eine anderweitige mathematische Betrachtungs-<lb/>
weise der organischen Formen, welche der krystallographischen Methode<lb/>
ähnlich, aber doch wesentlich verschieden ist, allerdings möglich. Es<lb/>
lassen sich nämlich, wie das vierte Buch unseres Werkes zeigen wird,<lb/>
gewisse einfache <hirendition="#g">stereometrische Grundformen der Organismen</hi><lb/>
auffinden, welche unter den scheinbar ganz unzugänglichen Curven-<lb/>
systemen der unberechenbar complicirten Formen der organischen In-<lb/>
dividuen versteckt liegen. Diese neue <hirendition="#g">Lehre von den Grund-</hi><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[26/0065]
Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
dass mit der stereometrischen Ausmessung derselben die Aufgabe
ihrer morphologischen Erkenntniss völlig gelöst ist. Die anorganischen
Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und
bestimmten messbaren Winkeln begrenzt. Die Hauptaufgabe der Kry-
stallographie, welche den grössten Theil der abiologischen Morphologie
ausmacht, ist daher die Ausmessung und Berechnung dieser relativ
einfachen geometrischen Form-Verhältnisse.
In vollem Gegensatz hierzu sind organische Individuen, deren
Form einer stereometrischen Behandlung zugänglich ist, seltene
Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümmten Flächen, ge-
bogenen Linien und unmessbaren sphärischen Winkeln begrenzt. Die
Curven, welche hier sich finden, sind so zusammengesetzter und dabei
meist scheinbar so unbestimmter Natur, dass ihre Ausmessung und
Berechnung als ein unlösbares Problem erscheint. Zwar wird die
stereometrische Behandlung der organischen Formen sehr häufig als
Ziel einer späteren vollendeteren, exact-mathematischen Methode ihrer
Untersuchung hingestellt. Indessen müssen wir unseres Theils diese
weit verbreitete Ansicht als eine irrige bezeichnen. Es wird nämlich
durch die unbegrenzte Variabilität aller organischen Formen,
welche im sechsten Buche erläutert werden wird, bereits die Möglich-
keit einer exacten geometrischen Behandlung, wie sie die Krystallo-
graphie durchführt, von vornherein ausgeschlossen. Da nämlich factisch
schon nächstverwandte Individuen einer und derselben Species, z. B.
verschiedene Geschwister die von einem und demselben Elternpaar ab-
stammen, in Beziehung auf äussere und innere Form unendlich viele,
gröbere und feinere individuelle Verschiedenheiten zeigen, da niemals
bei allen Individuen einer und derselben organischen Species sämmt-
liche gekrümmte Flächen, Linien und Winkel des Körpers und seiner
einzelnen Theile absolut identisch, sondern stets nur annähernd gleich
oder ähnlich sind, so ist eine derartige absolute mathematische
Betrachtungsweise der organischen Form, wie sie gewöhnlich
gefordert wird, gar nicht möglich; und wenn man selbst die compli-
cirten Curven etc. bei allen einzelnen Individuen berechnen und dann
vergleichen könnte, so hätte eine solche mühsame Arbeit nicht das
mindeste Interesse und die Arbeit selbst wäre eine wahre Danaiden-
Arbeit. Dagegen ist eine anderweitige mathematische Betrachtungs-
weise der organischen Formen, welche der krystallographischen Methode
ähnlich, aber doch wesentlich verschieden ist, allerdings möglich. Es
lassen sich nämlich, wie das vierte Buch unseres Werkes zeigen wird,
gewisse einfache stereometrische Grundformen der Organismen
auffinden, welche unter den scheinbar ganz unzugänglichen Curven-
systemen der unberechenbar complicirten Formen der organischen In-
dividuen versteckt liegen. Diese neue Lehre von den Grund-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/65>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.