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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften.
formen (Promorphen 1) oder Promorphologie werden wir als einen
besonderen und höchst wesentlichen Theil der Morphologie der Organis-
men auszubauen haben. Er wird uns das Aequivalent einer organischen
Krystallographie sein. Die Betrachtung der Form der einzelnen In-
dividuen verschiedener Ordnung, welche den Organismus zusammen-
setzen, wird sich stets an diese Betrachtung der geometrischen Grund-
formen als an ihr festes und sicheres Skelet anlehnen müssen. Wie
dies zu verstehen ist, wird das vierte Buch zeigen.

Während die beiden wesentlichen eben hervorgehobenen Unter-
schiede in der Formbildung der Organismen und der Anorgane die
vollendete Form betreffen, so finden wir zwei andere nicht minder
bedeutende Differenzen zwischen beiden Hauptreihen von Naturkörpern
in der Entstehung der Formen. Die Formen der anorganischen
Individuen entstehen dadurch, dass sich die gleichartigen Moleküle
der homogenen Materie, aus der sie bestehen, nach bestimmten physi-
kalischen Gesetzen um einen bestimmten Mittelpunkt herum ansammeln.
Die Form des Individuums (z. B. des Krystalls) ist hier zu jeder Zeit
seiner Existenz dieselbe; sobald der Krystall überhaupt in bestimm-
ter Form gebildet ist, bleibt diese mathematisch bestimmbare Form,
so lange er besteht, dieselbe, mag das Individuum nachher noch so sehr
an Grösse zunehmen. Jedes Wachsthum der Anorgane beruht bloss
auf Apposition neuer Moleküle von aussen her. Weder die innere
Gleichartigkeit der Substanz, noch die äussere charakteristische Form
wird durch dieses Wachsthum irgendwie verändert. Das anorganische
Individuum entwickelt sich nicht
.

Grundverschieden von dieser Wachsthums-Art der Anorgane durch
äussere Apposition ist das Wachsthum der Organismen, welches
durch innere Intussusception geschieht und welches nicht bloss
eine Veränderung der Grösse, sondern auch der Form des organischen
Individuums herbeiführt. Das organische Individuum entwickelt
sich
. Es durchläuft während seines Lebens eine Reihe von ver-
schiedenen Formen. Wir können daher niemals die Form des con-
creten organischen Individuums aus einem einzigen gegebenen Form-
zustand wahrhaft erkennen, sondern müssen zu diesem Zwecke die
ganze Kette von auf einander folgenden Formen untersuchen und ver-
gleichen, welche das organische Individuum während der ganzen Zeit
seines Lebens von Anfang bis zu Ende durchläuft. Diese Aufgabe
löst die Entwicklungsgeschichte oder die Embryologie, welche
passender Ontogenie heissen würde (siehe unten). Die allgemeinen
Grundzüge dieser Wissenschaft werden wir im fünften Buche festzu-

1) promorphe, e, die Grundform, Vorform, Urform.

II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften.
formen (Promorphen 1) oder Promorphologie werden wir als einen
besonderen und höchst wesentlichen Theil der Morphologie der Organis-
men auszubauen haben. Er wird uns das Aequivalent einer organischen
Krystallographie sein. Die Betrachtung der Form der einzelnen In-
dividuen verschiedener Ordnung, welche den Organismus zusammen-
setzen, wird sich stets an diese Betrachtung der geometrischen Grund-
formen als an ihr festes und sicheres Skelet anlehnen müssen. Wie
dies zu verstehen ist, wird das vierte Buch zeigen.

Während die beiden wesentlichen eben hervorgehobenen Unter-
schiede in der Formbildung der Organismen und der Anorgane die
vollendete Form betreffen, so finden wir zwei andere nicht minder
bedeutende Differenzen zwischen beiden Hauptreihen von Naturkörpern
in der Entstehung der Formen. Die Formen der anorganischen
Individuen entstehen dadurch, dass sich die gleichartigen Moleküle
der homogenen Materie, aus der sie bestehen, nach bestimmten physi-
kalischen Gesetzen um einen bestimmten Mittelpunkt herum ansammeln.
Die Form des Individuums (z. B. des Krystalls) ist hier zu jeder Zeit
seiner Existenz dieselbe; sobald der Krystall überhaupt in bestimm-
ter Form gebildet ist, bleibt diese mathematisch bestimmbare Form,
so lange er besteht, dieselbe, mag das Individuum nachher noch so sehr
an Grösse zunehmen. Jedes Wachsthum der Anorgane beruht bloss
auf Apposition neuer Moleküle von aussen her. Weder die innere
Gleichartigkeit der Substanz, noch die äussere charakteristische Form
wird durch dieses Wachsthum irgendwie verändert. Das anorganische
Individuum entwickelt sich nicht
.

Grundverschieden von dieser Wachsthums-Art der Anorgane durch
äussere Apposition ist das Wachsthum der Organismen, welches
durch innere Intussusception geschieht und welches nicht bloss
eine Veränderung der Grösse, sondern auch der Form des organischen
Individuums herbeiführt. Das organische Individuum entwickelt
sich
. Es durchläuft während seines Lebens eine Reihe von ver-
schiedenen Formen. Wir können daher niemals die Form des con-
creten organischen Individuums aus einem einzigen gegebenen Form-
zustand wahrhaft erkennen, sondern müssen zu diesem Zwecke die
ganze Kette von auf einander folgenden Formen untersuchen und ver-
gleichen, welche das organische Individuum während der ganzen Zeit
seines Lebens von Anfang bis zu Ende durchläuft. Diese Aufgabe
löst die Entwicklungsgeschichte oder die Embryologie, welche
passender Ontogenie heissen würde (siehe unten). Die allgemeinen
Grundzüge dieser Wissenschaft werden wir im fünften Buche festzu-

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[27/0066] II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften. formen (Promorphen 1) oder Promorphologie werden wir als einen besonderen und höchst wesentlichen Theil der Morphologie der Organis- men auszubauen haben. Er wird uns das Aequivalent einer organischen Krystallographie sein. Die Betrachtung der Form der einzelnen In- dividuen verschiedener Ordnung, welche den Organismus zusammen- setzen, wird sich stets an diese Betrachtung der geometrischen Grund- formen als an ihr festes und sicheres Skelet anlehnen müssen. Wie dies zu verstehen ist, wird das vierte Buch zeigen. Während die beiden wesentlichen eben hervorgehobenen Unter- schiede in der Formbildung der Organismen und der Anorgane die vollendete Form betreffen, so finden wir zwei andere nicht minder bedeutende Differenzen zwischen beiden Hauptreihen von Naturkörpern in der Entstehung der Formen. Die Formen der anorganischen Individuen entstehen dadurch, dass sich die gleichartigen Moleküle der homogenen Materie, aus der sie bestehen, nach bestimmten physi- kalischen Gesetzen um einen bestimmten Mittelpunkt herum ansammeln. Die Form des Individuums (z. B. des Krystalls) ist hier zu jeder Zeit seiner Existenz dieselbe; sobald der Krystall überhaupt in bestimm- ter Form gebildet ist, bleibt diese mathematisch bestimmbare Form, so lange er besteht, dieselbe, mag das Individuum nachher noch so sehr an Grösse zunehmen. Jedes Wachsthum der Anorgane beruht bloss auf Apposition neuer Moleküle von aussen her. Weder die innere Gleichartigkeit der Substanz, noch die äussere charakteristische Form wird durch dieses Wachsthum irgendwie verändert. Das anorganische Individuum entwickelt sich nicht. Grundverschieden von dieser Wachsthums-Art der Anorgane durch äussere Apposition ist das Wachsthum der Organismen, welches durch innere Intussusception geschieht und welches nicht bloss eine Veränderung der Grösse, sondern auch der Form des organischen Individuums herbeiführt. Das organische Individuum entwickelt sich. Es durchläuft während seines Lebens eine Reihe von ver- schiedenen Formen. Wir können daher niemals die Form des con- creten organischen Individuums aus einem einzigen gegebenen Form- zustand wahrhaft erkennen, sondern müssen zu diesem Zwecke die ganze Kette von auf einander folgenden Formen untersuchen und ver- gleichen, welche das organische Individuum während der ganzen Zeit seines Lebens von Anfang bis zu Ende durchläuft. Diese Aufgabe löst die Entwicklungsgeschichte oder die Embryologie, welche passender Ontogenie heissen würde (siehe unten). Die allgemeinen Grundzüge dieser Wissenschaft werden wir im fünften Buche festzu- 1) πϱομοϱφή, ἡ, die Grundform, Vorform, Urform.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/66>, abgerufen am 21.11.2024.