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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
stellen haben. Die Ontogenie wird immer einen wesentlichen und
nicht zu entbehrenden Bestandtheil der wissenschaftlichen Morphologie
ausmachen. Durch sie wird die letztere mit der Physiologie auf das
engste verbunden.

Ein vierter und letzter sehr wesentlicher Unterschied zwischen
den Formen der anorganischen und der organischen Individuen betrifft
nicht die Beschaffenheit oder Entstehung der Form der concreten ein-
zelnen Individuen, sondern diejenige der abstracten Einheiten, welche
man Arten nennt. Unter dem Namen der Art oder Species fasst
man gewöhnlich oberflächlich alle diejenigen Individuen zusammen,
welche einander gleich oder ähnlich sind, d. h. welche in allen soge-
nannten wesentlichen Characteren übereinstimmen. Alle unorgani-
schen Individuen, welche zu einer und derselben Art gehören, z. B. zu
einer bestimmten Krystall-Art, haben vollkommen dieselbe Form
(feste Krystallform) und dieselbe chemische Zusammensetzung. Die
einzelnen Individuen jeder anorganischen Species unterscheiden sich
lediglich durch ihre Grösse. Andererseits gehören alle anorganischen
Individuen, welche entweder durch ihr chemisches Substrat oder durch
ihre Form (Krystallform etc.) verschieden sind, verschiedenen Arten an.
Die Form jeder anorganischen Art ist aber unveränderlich, und
die Kochsalzkrystalle, welche zu allererst auf unserer Erde entstanden
sind, werden in keiner Beziehung verschieden von denjenigen gewesen
sein, die heutzutage sich bilden.

Eine ganz andere Bedeutung hat der Begriff der Art oder Spe-
cies für die Form der organischen Individuen. Hier ist das Kriterium
der Species nicht die Gleichheit der Form aller Individuen, auch nicht
einmal die Aehnlichkeit derselben. Denn in vielen Fällen sind Larven
und Erwachsene, Männchen und Weibchen derselben Art so gänzlich
verschiedene Formen, dass sie in keinem einzigen speciellen Form-
character übereinstimmen, und dass man sie nur in eine einzige Species
zusammenstellt, weil sie von einem und demselben gemeinsamen Stamm-
vater abstammen. Nun sind aber diese "Arten" oder Species, welche
der Inbegriff aller Descendenten einer einzigen Stammform sind, kei-
neswegs unveränderlich. Es erzeugt nicht Gleiches nur Gleiches, wie
gewöhnlich falsch gesagt wird, sondern Aehnliches erzeugt Aehnliches,
und nach Verlauf eines gewissen Zeitraums gehen die organischen
Species unter, während neue sich aus ihnen entwickeln. -- Die Form
jeder organischen Species ist also durchaus veränderlich,
und
die Species selbst mithin keine abgeschlossene Einheit. Wohl aber ist
eine solche reale und vollkommen abgeschlossene Einheit die Summe
aller Species, welche aus einer und derselben gemeinschaft-
lichen Stammform allmählig sich entwickelt haben,
wie z. B.

Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
stellen haben. Die Ontogenie wird immer einen wesentlichen und
nicht zu entbehrenden Bestandtheil der wissenschaftlichen Morphologie
ausmachen. Durch sie wird die letztere mit der Physiologie auf das
engste verbunden.

Ein vierter und letzter sehr wesentlicher Unterschied zwischen
den Formen der anorganischen und der organischen Individuen betrifft
nicht die Beschaffenheit oder Entstehung der Form der concreten ein-
zelnen Individuen, sondern diejenige der abstracten Einheiten, welche
man Arten nennt. Unter dem Namen der Art oder Species fasst
man gewöhnlich oberflächlich alle diejenigen Individuen zusammen,
welche einander gleich oder ähnlich sind, d. h. welche in allen soge-
nannten wesentlichen Characteren übereinstimmen. Alle unorgani-
schen Individuen, welche zu einer und derselben Art gehören, z. B. zu
einer bestimmten Krystall-Art, haben vollkommen dieselbe Form
(feste Krystallform) und dieselbe chemische Zusammensetzung. Die
einzelnen Individuen jeder anorganischen Species unterscheiden sich
lediglich durch ihre Grösse. Andererseits gehören alle anorganischen
Individuen, welche entweder durch ihr chemisches Substrat oder durch
ihre Form (Krystallform etc.) verschieden sind, verschiedenen Arten an.
Die Form jeder anorganischen Art ist aber unveränderlich, und
die Kochsalzkrystalle, welche zu allererst auf unserer Erde entstanden
sind, werden in keiner Beziehung verschieden von denjenigen gewesen
sein, die heutzutage sich bilden.

Eine ganz andere Bedeutung hat der Begriff der Art oder Spe-
cies für die Form der organischen Individuen. Hier ist das Kriterium
der Species nicht die Gleichheit der Form aller Individuen, auch nicht
einmal die Aehnlichkeit derselben. Denn in vielen Fällen sind Larven
und Erwachsene, Männchen und Weibchen derselben Art so gänzlich
verschiedene Formen, dass sie in keinem einzigen speciellen Form-
character übereinstimmen, und dass man sie nur in eine einzige Species
zusammenstellt, weil sie von einem und demselben gemeinsamen Stamm-
vater abstammen. Nun sind aber diese „Arten“ oder Species, welche
der Inbegriff aller Descendenten einer einzigen Stammform sind, kei-
neswegs unveränderlich. Es erzeugt nicht Gleiches nur Gleiches, wie
gewöhnlich falsch gesagt wird, sondern Aehnliches erzeugt Aehnliches,
und nach Verlauf eines gewissen Zeitraums gehen die organischen
Species unter, während neue sich aus ihnen entwickeln. — Die Form
jeder organischen Species ist also durchaus veränderlich,
und
die Species selbst mithin keine abgeschlossene Einheit. Wohl aber ist
eine solche reale und vollkommen abgeschlossene Einheit die Summe
aller Species, welche aus einer und derselben gemeinschaft-
lichen Stammform allmählig sich entwickelt haben,
wie z. B.

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[28/0067] Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften. stellen haben. Die Ontogenie wird immer einen wesentlichen und nicht zu entbehrenden Bestandtheil der wissenschaftlichen Morphologie ausmachen. Durch sie wird die letztere mit der Physiologie auf das engste verbunden. Ein vierter und letzter sehr wesentlicher Unterschied zwischen den Formen der anorganischen und der organischen Individuen betrifft nicht die Beschaffenheit oder Entstehung der Form der concreten ein- zelnen Individuen, sondern diejenige der abstracten Einheiten, welche man Arten nennt. Unter dem Namen der Art oder Species fasst man gewöhnlich oberflächlich alle diejenigen Individuen zusammen, welche einander gleich oder ähnlich sind, d. h. welche in allen soge- nannten wesentlichen Characteren übereinstimmen. Alle unorgani- schen Individuen, welche zu einer und derselben Art gehören, z. B. zu einer bestimmten Krystall-Art, haben vollkommen dieselbe Form (feste Krystallform) und dieselbe chemische Zusammensetzung. Die einzelnen Individuen jeder anorganischen Species unterscheiden sich lediglich durch ihre Grösse. Andererseits gehören alle anorganischen Individuen, welche entweder durch ihr chemisches Substrat oder durch ihre Form (Krystallform etc.) verschieden sind, verschiedenen Arten an. Die Form jeder anorganischen Art ist aber unveränderlich, und die Kochsalzkrystalle, welche zu allererst auf unserer Erde entstanden sind, werden in keiner Beziehung verschieden von denjenigen gewesen sein, die heutzutage sich bilden. Eine ganz andere Bedeutung hat der Begriff der Art oder Spe- cies für die Form der organischen Individuen. Hier ist das Kriterium der Species nicht die Gleichheit der Form aller Individuen, auch nicht einmal die Aehnlichkeit derselben. Denn in vielen Fällen sind Larven und Erwachsene, Männchen und Weibchen derselben Art so gänzlich verschiedene Formen, dass sie in keinem einzigen speciellen Form- character übereinstimmen, und dass man sie nur in eine einzige Species zusammenstellt, weil sie von einem und demselben gemeinsamen Stamm- vater abstammen. Nun sind aber diese „Arten“ oder Species, welche der Inbegriff aller Descendenten einer einzigen Stammform sind, kei- neswegs unveränderlich. Es erzeugt nicht Gleiches nur Gleiches, wie gewöhnlich falsch gesagt wird, sondern Aehnliches erzeugt Aehnliches, und nach Verlauf eines gewissen Zeitraums gehen die organischen Species unter, während neue sich aus ihnen entwickeln. — Die Form jeder organischen Species ist also durchaus veränderlich, und die Species selbst mithin keine abgeschlossene Einheit. Wohl aber ist eine solche reale und vollkommen abgeschlossene Einheit die Summe aller Species, welche aus einer und derselben gemeinschaft- lichen Stammform allmählig sich entwickelt haben, wie z. B.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/67>, abgerufen am 19.05.2024.