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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften.
alle Wirbelthiere. Diese Summe nennen wir Stamm (Phylon). 1)
Die Untersuchung der Entwicklung dieser Stämme und die Feststellung
der genealogischen Verwandtschaft aller Species, die zu einem Stamm
gehören, halten wir für die höchste und letzte besondere Aufgabe der
organischen Morphologie. Im sechsten Buche werden wir die Grund-
züge dieser Phylogenie oder Entwicklungsgeschichte der or-
ganischen Stämme
(Kreise oder "Typen") festzustellen haben. Das
Material zu dieser bisher gänzlich vernachlässigten Wissenschaft liefert
uns vor Allem die Palaeontologie, die Erkenntniss der ausge-
storbenen Lebensformen, welche die Stammeltern und Blutsverwandten
der jetzt lebenden Organismen sind. Die ganze Disciplin könnte aber
auch als organische Verwandtschaftslehre oder Genealogie bezeich-
net werden, wie wir deren Bedeutung im sechsten Buche feststellen
werden.

Aus den vorausgehenden Erörterungen über die charakteristischen
Qualitäten der organischen Formen haben sich uns nun bereits von
selbst die speciellen einzelnen Aufgaben entwickelt, welche die Morpho-
logie der Organismen als die erklärende organische Formenlehre zu
lösen haben wird. Es wird jede der vier angeführten Qualitäten der
organischen Form ihre gesonderte Behandlung verlangen, und es wird
diese Aufgabe vier gesonderten Disciplinen zufallen.

Wir werden zunächst als die beiden Hauptzweige, in welche sich
die Morphologie der Organismen (nach Ausschluss der statischen Or-
ganochemie) spaltet, zu unterscheiden haben: I) die Wissenschaft von
der vollendeten organischen Form oder die Anatomie, und II) die
Wissenschaft von der werdenden organischen Form oder die Ent-
wickelungsgeschichte, Morphogenie.

Die Anatomie (im weitesten Sinne) oder die gesammte For-
menlehre des vollendeten Organismus,
wird auch häufig als
Organologie oder als Morphologie bezeichnet, und von Anderen wieder
als ein Theil der Systematik betrachtet. Die verschiedenen hierüber
herrschenden Ansichten, sowie die verschiedenen Eintheilungen der
Anatomie in untergeordnete Disciplinen, werden wir sogleich einer ge-
sonderten Betrachtung unterwerfen. Nach unserer Anschauung, die
wir so eben entwickelt haben, spaltet sich die Anatomie zunächst in
zwei verschiedene Disciplinen: I) die Lehre von der Zusammensetzung
des Organismus aus gleichartigen und ungleichartigen Theilen, welche
man passend entweder Zusammensetzungslehre oder Baulehre (Tecto-
logie
) oder Lehre von den Theilen (Merologie) nennen könnte (drittes
Buch), und II) die Lehre von den Formen der einzelnen Theile oder der
einzelnen Individuen verschiedener Ordnung und insbesondere von

1) phulon, to; der Stamm (Volksstamm, Nation).

II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften.
alle Wirbelthiere. Diese Summe nennen wir Stamm (Phylon). 1)
Die Untersuchung der Entwicklung dieser Stämme und die Feststellung
der genealogischen Verwandtschaft aller Species, die zu einem Stamm
gehören, halten wir für die höchste und letzte besondere Aufgabe der
organischen Morphologie. Im sechsten Buche werden wir die Grund-
züge dieser Phylogenie oder Entwicklungsgeschichte der or-
ganischen Stämme
(Kreise oder „Typen“) festzustellen haben. Das
Material zu dieser bisher gänzlich vernachlässigten Wissenschaft liefert
uns vor Allem die Palaeontologie, die Erkenntniss der ausge-
storbenen Lebensformen, welche die Stammeltern und Blutsverwandten
der jetzt lebenden Organismen sind. Die ganze Disciplin könnte aber
auch als organische Verwandtschaftslehre oder Genealogie bezeich-
net werden, wie wir deren Bedeutung im sechsten Buche feststellen
werden.

Aus den vorausgehenden Erörterungen über die charakteristischen
Qualitäten der organischen Formen haben sich uns nun bereits von
selbst die speciellen einzelnen Aufgaben entwickelt, welche die Morpho-
logie der Organismen als die erklärende organische Formenlehre zu
lösen haben wird. Es wird jede der vier angeführten Qualitäten der
organischen Form ihre gesonderte Behandlung verlangen, und es wird
diese Aufgabe vier gesonderten Disciplinen zufallen.

Wir werden zunächst als die beiden Hauptzweige, in welche sich
die Morphologie der Organismen (nach Ausschluss der statischen Or-
ganochemie) spaltet, zu unterscheiden haben: I) die Wissenschaft von
der vollendeten organischen Form oder die Anatomie, und II) die
Wissenschaft von der werdenden organischen Form oder die Ent-
wickelungsgeschichte, Morphogenie.

Die Anatomie (im weitesten Sinne) oder die gesammte For-
menlehre des vollendeten Organismus,
wird auch häufig als
Organologie oder als Morphologie bezeichnet, und von Anderen wieder
als ein Theil der Systematik betrachtet. Die verschiedenen hierüber
herrschenden Ansichten, sowie die verschiedenen Eintheilungen der
Anatomie in untergeordnete Disciplinen, werden wir sogleich einer ge-
sonderten Betrachtung unterwerfen. Nach unserer Anschauung, die
wir so eben entwickelt haben, spaltet sich die Anatomie zunächst in
zwei verschiedene Disciplinen: I) die Lehre von der Zusammensetzung
des Organismus aus gleichartigen und ungleichartigen Theilen, welche
man passend entweder Zusammensetzungslehre oder Baulehre (Tecto-
logie
) oder Lehre von den Theilen (Merologie) nennen könnte (drittes
Buch), und II) die Lehre von den Formen der einzelnen Theile oder der
einzelnen Individuen verschiedener Ordnung und insbesondere von

1) φῦλον, τό; der Stamm (Volksstamm, Nation).
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[29/0068] II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften. alle Wirbelthiere. Diese Summe nennen wir Stamm (Phylon). 1) Die Untersuchung der Entwicklung dieser Stämme und die Feststellung der genealogischen Verwandtschaft aller Species, die zu einem Stamm gehören, halten wir für die höchste und letzte besondere Aufgabe der organischen Morphologie. Im sechsten Buche werden wir die Grund- züge dieser Phylogenie oder Entwicklungsgeschichte der or- ganischen Stämme (Kreise oder „Typen“) festzustellen haben. Das Material zu dieser bisher gänzlich vernachlässigten Wissenschaft liefert uns vor Allem die Palaeontologie, die Erkenntniss der ausge- storbenen Lebensformen, welche die Stammeltern und Blutsverwandten der jetzt lebenden Organismen sind. Die ganze Disciplin könnte aber auch als organische Verwandtschaftslehre oder Genealogie bezeich- net werden, wie wir deren Bedeutung im sechsten Buche feststellen werden. Aus den vorausgehenden Erörterungen über die charakteristischen Qualitäten der organischen Formen haben sich uns nun bereits von selbst die speciellen einzelnen Aufgaben entwickelt, welche die Morpho- logie der Organismen als die erklärende organische Formenlehre zu lösen haben wird. Es wird jede der vier angeführten Qualitäten der organischen Form ihre gesonderte Behandlung verlangen, und es wird diese Aufgabe vier gesonderten Disciplinen zufallen. Wir werden zunächst als die beiden Hauptzweige, in welche sich die Morphologie der Organismen (nach Ausschluss der statischen Or- ganochemie) spaltet, zu unterscheiden haben: I) die Wissenschaft von der vollendeten organischen Form oder die Anatomie, und II) die Wissenschaft von der werdenden organischen Form oder die Ent- wickelungsgeschichte, Morphogenie. Die Anatomie (im weitesten Sinne) oder die gesammte For- menlehre des vollendeten Organismus, wird auch häufig als Organologie oder als Morphologie bezeichnet, und von Anderen wieder als ein Theil der Systematik betrachtet. Die verschiedenen hierüber herrschenden Ansichten, sowie die verschiedenen Eintheilungen der Anatomie in untergeordnete Disciplinen, werden wir sogleich einer ge- sonderten Betrachtung unterwerfen. Nach unserer Anschauung, die wir so eben entwickelt haben, spaltet sich die Anatomie zunächst in zwei verschiedene Disciplinen: I) die Lehre von der Zusammensetzung des Organismus aus gleichartigen und ungleichartigen Theilen, welche man passend entweder Zusammensetzungslehre oder Baulehre (Tecto- logie) oder Lehre von den Theilen (Merologie) nennen könnte (drittes Buch), und II) die Lehre von den Formen der einzelnen Theile oder der einzelnen Individuen verschiedener Ordnung und insbesondere von 1) φῦλον, τό; der Stamm (Volksstamm, Nation).

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/68>, abgerufen am 21.11.2024.