Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
Wenn die Morphogenie diesen höchsten Grad der Vollkommenheit er- reicht haben wird (was vorläufig nicht entfernt zu hoffen ist), wenn es ihr gelungen sein wird, mit Hülfe der Physiologie die Entwickelungs-Vorgänge der Organismen -- und zwar sowohl diejenigen der Individuen (Ontogenese) als diejenigen der Stämme (Phylogenese) -- als die nothwendigen Folgen des Zusammenwirkens einer Reihe von physikalischen und chemischen Be- dingungen nachzuweisen, so wird sich der Streit der Physiologie und der Morphologie, ob die Entwickelungsgeschichte zur einen oder zur anderen ge- höre, einfach durch ein Beiden gerechtes Urtheil entscheiden lassen, welches die Morphogenie in zwei Hälften spaltet. Wir werden dann als zwei coordinirte Hauptzweige der Entwickelungsgeschichte eine dynamische oder physiologische und eine statische oder morphologische Entwickelungsgeschichte zu unterschei- den haben. Die morphologische oder statische Morphogenie, welche der Morphologie anheimfällt, wird dann fernerhin, wie bisher die gesammte Morpho- genie, die Aufgabe verfolgen, die verschiedenen Formen, welche bei der Ent- wickelung des Organismus -- und zwar sowohl des Individuums als des Stam- mes, -- nach einander auftreten, einzeln aufzusuchen und anatomisch zu erklären, den Zusammenhang der zusammengehörigen Formen nachzuweisen und daraus die continuirlich-zusammenhängende Formenreihe herzustellen. Der physiologischen oder dynamischen Morphogenie dagegen, welche zur Physiologie zu rechnen sein würde, müsste die Aufgabe anheimfallen, die absolute Nothwendigkeit dieser Erscheinungsreihen nachzuweisen, ihre physikalisch-chemischen Ursachen aufzusuchen, und die Gesetze zu be- stimmen, nach denen der Organismus -- und zwar eben sowohl das In- dividuum als der Stamm -- eine bestimmte Reihe verschiedener Formen durchlaufen muss.
Nun ist aber eine physiologische Entwickelungsgeschichte der Or- ganismen in dem so eben geforderten Sinne gegenwärtig noch gänzlich un- entwickelt. Ihre Aufgabe, wie wir sie hier formulirt haben, ist kaum ge- nannt, geschweige denn ausgeführt, oder auch nur allgemein begonnen. Kein Zweig der gesammten Biologie ist in dieser Beziehung noch so weit von seinem eigentlichen Ziele entfernt. Die gesammte Morphogenie, wie sie gegenwärtig existirt, und zwar sowohl die Entwickelungsgeschichte der In- dividuen, als der Stämme, denkt noch nicht daran, die physikalischen und chemischen Bedingungen der Entwickelungs-Vorgänge zu erforschen, und begnügt sich noch vollständig mit der thatsächlichen Feststellung derselben, und selbst auf diesem rein morphologischen Gebiete ist sie noch so weit zurück, dass wir überall mehr von einzelnen zerrissenen und zusammen- hangslosen Skizzen, als von einer zusammenhängenden Geschichte sprechen können. Aus diesem Grunde können wir die Entwickelungsgeschichte der Organismen, wie sie heute ist, und wie sie voraussichtlich noch sehr lange sein wird, als eine rein morphologische Disciplin für uns in Anspruch nehmen, und wir sind hierzu um so mehr berechtigt, ja verpflichtet, als die Kenntniss des Werdens der organischen Formen uns allein das Verständ- niss ihres Seins gewährt, und als die Anatomie der Organismen nur durch die Wechselwirkung mit der Morphogenie in den Stand gesetzt wird, die Bildung der organischen Formen gesetzlich zu erklären. Die wissenschaft-
Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
Wenn die Morphogenie diesen höchsten Grad der Vollkommenheit er- reicht haben wird (was vorläufig nicht entfernt zu hoffen ist), wenn es ihr gelungen sein wird, mit Hülfe der Physiologie die Entwickelungs-Vorgänge der Organismen — und zwar sowohl diejenigen der Individuen (Ontogenese) als diejenigen der Stämme (Phylogenese) — als die nothwendigen Folgen des Zusammenwirkens einer Reihe von physikalischen und chemischen Be- dingungen nachzuweisen, so wird sich der Streit der Physiologie und der Morphologie, ob die Entwickelungsgeschichte zur einen oder zur anderen ge- höre, einfach durch ein Beiden gerechtes Urtheil entscheiden lassen, welches die Morphogenie in zwei Hälften spaltet. Wir werden dann als zwei coordinirte Hauptzweige der Entwickelungsgeschichte eine dynamische oder physiologische und eine statische oder morphologische Entwickelungsgeschichte zu unterschei- den haben. Die morphologische oder statische Morphogenie, welche der Morphologie anheimfällt, wird dann fernerhin, wie bisher die gesammte Morpho- genie, die Aufgabe verfolgen, die verschiedenen Formen, welche bei der Ent- wickelung des Organismus — und zwar sowohl des Individuums als des Stam- mes, — nach einander auftreten, einzeln aufzusuchen und anatomisch zu erklären, den Zusammenhang der zusammengehörigen Formen nachzuweisen und daraus die continuirlich-zusammenhängende Formenreihe herzustellen. Der physiologischen oder dynamischen Morphogenie dagegen, welche zur Physiologie zu rechnen sein würde, müsste die Aufgabe anheimfallen, die absolute Nothwendigkeit dieser Erscheinungsreihen nachzuweisen, ihre physikalisch-chemischen Ursachen aufzusuchen, und die Gesetze zu be- stimmen, nach denen der Organismus — und zwar eben sowohl das In- dividuum als der Stamm — eine bestimmte Reihe verschiedener Formen durchlaufen muss.
Nun ist aber eine physiologische Entwickelungsgeschichte der Or- ganismen in dem so eben geforderten Sinne gegenwärtig noch gänzlich un- entwickelt. Ihre Aufgabe, wie wir sie hier formulirt haben, ist kaum ge- nannt, geschweige denn ausgeführt, oder auch nur allgemein begonnen. Kein Zweig der gesammten Biologie ist in dieser Beziehung noch so weit von seinem eigentlichen Ziele entfernt. Die gesammte Morphogenie, wie sie gegenwärtig existirt, und zwar sowohl die Entwickelungsgeschichte der In- dividuen, als der Stämme, denkt noch nicht daran, die physikalischen und chemischen Bedingungen der Entwickelungs-Vorgänge zu erforschen, und begnügt sich noch vollständig mit der thatsächlichen Feststellung derselben, und selbst auf diesem rein morphologischen Gebiete ist sie noch so weit zurück, dass wir überall mehr von einzelnen zerrissenen und zusammen- hangslosen Skizzen, als von einer zusammenhängenden Geschichte sprechen können. Aus diesem Grunde können wir die Entwickelungsgeschichte der Organismen, wie sie heute ist, und wie sie voraussichtlich noch sehr lange sein wird, als eine rein morphologische Disciplin für uns in Anspruch nehmen, und wir sind hierzu um so mehr berechtigt, ja verpflichtet, als die Kenntniss des Werdens der organischen Formen uns allein das Verständ- niss ihres Seins gewährt, und als die Anatomie der Organismen nur durch die Wechselwirkung mit der Morphogenie in den Stand gesetzt wird, die Bildung der organischen Formen gesetzlich zu erklären. Die wissenschaft-
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Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
Wenn die Morphogenie diesen höchsten Grad der Vollkommenheit er-
reicht haben wird (was vorläufig nicht entfernt zu hoffen ist), wenn es ihr
gelungen sein wird, mit Hülfe der Physiologie die Entwickelungs-Vorgänge
der Organismen — und zwar sowohl diejenigen der Individuen (Ontogenese)
als diejenigen der Stämme (Phylogenese) — als die nothwendigen Folgen
des Zusammenwirkens einer Reihe von physikalischen und chemischen Be-
dingungen nachzuweisen, so wird sich der Streit der Physiologie und der
Morphologie, ob die Entwickelungsgeschichte zur einen oder zur anderen ge-
höre, einfach durch ein Beiden gerechtes Urtheil entscheiden lassen, welches
die Morphogenie in zwei Hälften spaltet. Wir werden dann als zwei coordinirte
Hauptzweige der Entwickelungsgeschichte eine dynamische oder physiologische
und eine statische oder morphologische Entwickelungsgeschichte zu unterschei-
den haben. Die morphologische oder statische Morphogenie, welche der
Morphologie anheimfällt, wird dann fernerhin, wie bisher die gesammte Morpho-
genie, die Aufgabe verfolgen, die verschiedenen Formen, welche bei der Ent-
wickelung des Organismus — und zwar sowohl des Individuums als des Stam-
mes, — nach einander auftreten, einzeln aufzusuchen und anatomisch zu
erklären, den Zusammenhang der zusammengehörigen Formen nachzuweisen
und daraus die continuirlich-zusammenhängende Formenreihe herzustellen.
Der physiologischen oder dynamischen Morphogenie dagegen, welche
zur Physiologie zu rechnen sein würde, müsste die Aufgabe anheimfallen,
die absolute Nothwendigkeit dieser Erscheinungsreihen nachzuweisen, ihre
physikalisch-chemischen Ursachen aufzusuchen, und die Gesetze zu be-
stimmen, nach denen der Organismus — und zwar eben sowohl das In-
dividuum als der Stamm — eine bestimmte Reihe verschiedener Formen
durchlaufen muss.
Nun ist aber eine physiologische Entwickelungsgeschichte der Or-
ganismen in dem so eben geforderten Sinne gegenwärtig noch gänzlich un-
entwickelt. Ihre Aufgabe, wie wir sie hier formulirt haben, ist kaum ge-
nannt, geschweige denn ausgeführt, oder auch nur allgemein begonnen.
Kein Zweig der gesammten Biologie ist in dieser Beziehung noch so weit
von seinem eigentlichen Ziele entfernt. Die gesammte Morphogenie, wie sie
gegenwärtig existirt, und zwar sowohl die Entwickelungsgeschichte der In-
dividuen, als der Stämme, denkt noch nicht daran, die physikalischen und
chemischen Bedingungen der Entwickelungs-Vorgänge zu erforschen, und
begnügt sich noch vollständig mit der thatsächlichen Feststellung derselben,
und selbst auf diesem rein morphologischen Gebiete ist sie noch so weit
zurück, dass wir überall mehr von einzelnen zerrissenen und zusammen-
hangslosen Skizzen, als von einer zusammenhängenden Geschichte sprechen
können. Aus diesem Grunde können wir die Entwickelungsgeschichte der
Organismen, wie sie heute ist, und wie sie voraussichtlich noch sehr lange
sein wird, als eine rein morphologische Disciplin für uns in Anspruch
nehmen, und wir sind hierzu um so mehr berechtigt, ja verpflichtet, als die
Kenntniss des Werdens der organischen Formen uns allein das Verständ-
niss ihres Seins gewährt, und als die Anatomie der Organismen nur durch
die Wechselwirkung mit der Morphogenie in den Stand gesetzt wird, die
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/91>, abgerufen am 18.12.2024.
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