Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Kant's dualistische Biologie.
chanische Erklärung der organischen Natur möglich werde, vollständig
wieder auf. Und daß diese teleologische Betrachtung der organischen
Natur bei Kant die herrschende war, zeigt schon die Ueberschrift des
merkwürdigen §. 79, welcher jene beiden widersprechenden Sätze ent-
hält: "Von der nothwendigen Unterordnung des Princips
des Mechanismus unter das teleologische
in Erklärung
eines Dinges als Naturzweck".

Am schärfsten spricht sich Kant gegen die mechanische Erklärung
der organischen Natur in folgender Stelle aus (§. 74): "Es ist ganz
gewiß, daß wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit
nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend
kennen lernen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiß,
daß man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur
einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa der-
einst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines
Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, be-
greiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht dem Menschen
schlechterdings absprechen". Nun ist aber dieser unmögliche Newton
siebenzig Jahre später in Darwin wirklich erschienen, und seine Se-
lectionstheorie hat die Aufgabe thatsächlich gelöst, deren Lösung Kant
für absolut undenkbar erklärt hatte!

Jm Anschluß an Kant und an die deutschen Naturphilosophen,
mit deren Entwickelungstheorien wir uns im vorhergehenden Vor-
trage beschäftigt haben, erscheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz eini-
ger anderer deutscher Naturforscher und Philosophen zu gedenken, welche
im Laufe unseres Jahrhunderts mehr oder minder bestimmt gegen die
herrschenden teleologischen Schöpfungsvorstellungen sich auflehnten,
und den mechanischen Grundgedanken der Abstammungslehre geltend
machten. Bald waren es mehr allgemeine philosophische Betrachtun-
gen, bald mehr besondere empirische Wahrnehmungen, welche diese
denkenden Männer auf die Vorstellung brachten, daß die einzelnen
organischen Species von gemeinsamen Stammformen abstammen
müßten. Unter ihnen will ich zunächst den großen deutschen Geologen

Kant’s dualiſtiſche Biologie.
chaniſche Erklaͤrung der organiſchen Natur moͤglich werde, vollſtaͤndig
wieder auf. Und daß dieſe teleologiſche Betrachtung der organiſchen
Natur bei Kant die herrſchende war, zeigt ſchon die Ueberſchrift des
merkwuͤrdigen §. 79, welcher jene beiden widerſprechenden Saͤtze ent-
haͤlt: „Von der nothwendigen Unterordnung des Princips
des Mechanismus unter das teleologiſche
in Erklaͤrung
eines Dinges als Naturzweck“.

Am ſchaͤrfſten ſpricht ſich Kant gegen die mechaniſche Erklaͤrung
der organiſchen Natur in folgender Stelle aus (§. 74): „Es iſt ganz
gewiß, daß wir die organiſirten Weſen und deren innere Moͤglichkeit
nach bloß mechaniſchen Principien der Natur nicht einmal zureichend
kennen lernen, viel weniger uns erklaͤren koͤnnen, und zwar ſo gewiß,
daß man dreiſt ſagen kann: Es iſt fuͤr Menſchen ungereimt, auch nur
einen ſolchen Anſchlag zu faſſen, oder zu hoffen, daß noch etwa der-
einſt ein Newton aufſtehen koͤnne, der auch nur die Erzeugung eines
Grashalms nach Naturgeſetzen, die keine Abſicht geordnet hat, be-
greiflich machen werde, ſondern man muß dieſe Einſicht dem Menſchen
ſchlechterdings abſprechen“. Nun iſt aber dieſer unmoͤgliche Newton
ſiebenzig Jahre ſpaͤter in Darwin wirklich erſchienen, und ſeine Se-
lectionstheorie hat die Aufgabe thatſaͤchlich geloͤſt, deren Loͤſung Kant
fuͤr abſolut undenkbar erklaͤrt hatte!

Jm Anſchluß an Kant und an die deutſchen Naturphiloſophen,
mit deren Entwickelungstheorien wir uns im vorhergehenden Vor-
trage beſchaͤftigt haben, erſcheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz eini-
ger anderer deutſcher Naturforſcher und Philoſophen zu gedenken, welche
im Laufe unſeres Jahrhunderts mehr oder minder beſtimmt gegen die
herrſchenden teleologiſchen Schoͤpfungsvorſtellungen ſich auflehnten,
und den mechaniſchen Grundgedanken der Abſtammungslehre geltend
machten. Bald waren es mehr allgemeine philoſophiſche Betrachtun-
gen, bald mehr beſondere empiriſche Wahrnehmungen, welche dieſe
denkenden Maͤnner auf die Vorſtellung brachten, daß die einzelnen
organiſchen Species von gemeinſamen Stammformen abſtammen
muͤßten. Unter ihnen will ich zunaͤchſt den großen deutſchen Geologen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0106" n="85"/><fw place="top" type="header">Kant&#x2019;s duali&#x017F;ti&#x017F;che Biologie.</fw><lb/>
chani&#x017F;che Erkla&#x0364;rung der organi&#x017F;chen Natur mo&#x0364;glich werde, voll&#x017F;ta&#x0364;ndig<lb/>
wieder auf. Und daß die&#x017F;e teleologi&#x017F;che Betrachtung der organi&#x017F;chen<lb/>
Natur bei <hi rendition="#g">Kant</hi> die herr&#x017F;chende war, zeigt &#x017F;chon die Ueber&#x017F;chrift des<lb/>
merkwu&#x0364;rdigen §. 79, welcher jene beiden wider&#x017F;prechenden Sa&#x0364;tze ent-<lb/>
ha&#x0364;lt: &#x201E;Von der nothwendigen <hi rendition="#g">Unterordnung des Princips<lb/>
des Mechanismus unter das teleologi&#x017F;che</hi> in Erkla&#x0364;rung<lb/>
eines Dinges als Naturzweck&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Am &#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;ten &#x017F;pricht &#x017F;ich <hi rendition="#g">Kant</hi> gegen die mechani&#x017F;che Erkla&#x0364;rung<lb/>
der organi&#x017F;chen Natur in folgender Stelle aus (§. 74): &#x201E;Es i&#x017F;t ganz<lb/>
gewiß, daß wir die organi&#x017F;irten We&#x017F;en und deren innere Mo&#x0364;glichkeit<lb/>
nach bloß mechani&#x017F;chen Principien der Natur nicht einmal zureichend<lb/>
kennen lernen, viel weniger uns erkla&#x0364;ren ko&#x0364;nnen, und zwar &#x017F;o gewiß,<lb/>
daß man drei&#x017F;t &#x017F;agen kann: Es i&#x017F;t fu&#x0364;r Men&#x017F;chen ungereimt, auch nur<lb/>
einen &#x017F;olchen An&#x017F;chlag zu fa&#x017F;&#x017F;en, oder zu hoffen, daß noch etwa der-<lb/>
ein&#x017F;t ein <hi rendition="#g">Newton</hi> auf&#x017F;tehen ko&#x0364;nne, der auch nur die Erzeugung eines<lb/>
Grashalms nach Naturge&#x017F;etzen, die keine Ab&#x017F;icht geordnet hat, be-<lb/>
greiflich machen werde, &#x017F;ondern man muß die&#x017F;e Ein&#x017F;icht dem Men&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;chlechterdings ab&#x017F;prechen&#x201C;. Nun i&#x017F;t aber die&#x017F;er unmo&#x0364;gliche <hi rendition="#g">Newton</hi><lb/>
&#x017F;iebenzig Jahre &#x017F;pa&#x0364;ter in <hi rendition="#g">Darwin</hi> wirklich er&#x017F;chienen, und &#x017F;eine Se-<lb/>
lectionstheorie hat die Aufgabe that&#x017F;a&#x0364;chlich gelo&#x0364;&#x017F;t, deren Lo&#x0364;&#x017F;ung <hi rendition="#g">Kant</hi><lb/>
fu&#x0364;r ab&#x017F;olut undenkbar erkla&#x0364;rt hatte!</p><lb/>
        <p>Jm An&#x017F;chluß an <hi rendition="#g">Kant</hi> und an die deut&#x017F;chen Naturphilo&#x017F;ophen,<lb/>
mit deren Entwickelungstheorien wir uns im vorhergehenden Vor-<lb/>
trage be&#x017F;cha&#x0364;ftigt haben, er&#x017F;cheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz eini-<lb/>
ger anderer deut&#x017F;cher Naturfor&#x017F;cher und Philo&#x017F;ophen zu gedenken, welche<lb/>
im Laufe un&#x017F;eres Jahrhunderts mehr oder minder be&#x017F;timmt gegen die<lb/>
herr&#x017F;chenden teleologi&#x017F;chen Scho&#x0364;pfungsvor&#x017F;tellungen &#x017F;ich auflehnten,<lb/>
und den mechani&#x017F;chen Grundgedanken der Ab&#x017F;tammungslehre geltend<lb/>
machten. Bald waren es mehr allgemeine philo&#x017F;ophi&#x017F;che Betrachtun-<lb/>
gen, bald mehr be&#x017F;ondere empiri&#x017F;che Wahrnehmungen, welche die&#x017F;e<lb/>
denkenden Ma&#x0364;nner auf die Vor&#x017F;tellung brachten, daß die einzelnen<lb/>
organi&#x017F;chen Species von gemein&#x017F;amen Stammformen ab&#x017F;tammen<lb/>
mu&#x0364;ßten. Unter ihnen will ich zuna&#x0364;ch&#x017F;t den großen deut&#x017F;chen Geologen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0106] Kant’s dualiſtiſche Biologie. chaniſche Erklaͤrung der organiſchen Natur moͤglich werde, vollſtaͤndig wieder auf. Und daß dieſe teleologiſche Betrachtung der organiſchen Natur bei Kant die herrſchende war, zeigt ſchon die Ueberſchrift des merkwuͤrdigen §. 79, welcher jene beiden widerſprechenden Saͤtze ent- haͤlt: „Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das teleologiſche in Erklaͤrung eines Dinges als Naturzweck“. Am ſchaͤrfſten ſpricht ſich Kant gegen die mechaniſche Erklaͤrung der organiſchen Natur in folgender Stelle aus (§. 74): „Es iſt ganz gewiß, daß wir die organiſirten Weſen und deren innere Moͤglichkeit nach bloß mechaniſchen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklaͤren koͤnnen, und zwar ſo gewiß, daß man dreiſt ſagen kann: Es iſt fuͤr Menſchen ungereimt, auch nur einen ſolchen Anſchlag zu faſſen, oder zu hoffen, daß noch etwa der- einſt ein Newton aufſtehen koͤnne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgeſetzen, die keine Abſicht geordnet hat, be- greiflich machen werde, ſondern man muß dieſe Einſicht dem Menſchen ſchlechterdings abſprechen“. Nun iſt aber dieſer unmoͤgliche Newton ſiebenzig Jahre ſpaͤter in Darwin wirklich erſchienen, und ſeine Se- lectionstheorie hat die Aufgabe thatſaͤchlich geloͤſt, deren Loͤſung Kant fuͤr abſolut undenkbar erklaͤrt hatte! Jm Anſchluß an Kant und an die deutſchen Naturphiloſophen, mit deren Entwickelungstheorien wir uns im vorhergehenden Vor- trage beſchaͤftigt haben, erſcheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz eini- ger anderer deutſcher Naturforſcher und Philoſophen zu gedenken, welche im Laufe unſeres Jahrhunderts mehr oder minder beſtimmt gegen die herrſchenden teleologiſchen Schoͤpfungsvorſtellungen ſich auflehnten, und den mechaniſchen Grundgedanken der Abſtammungslehre geltend machten. Bald waren es mehr allgemeine philoſophiſche Betrachtun- gen, bald mehr beſondere empiriſche Wahrnehmungen, welche dieſe denkenden Maͤnner auf die Vorſtellung brachten, daß die einzelnen organiſchen Species von gemeinſamen Stammformen abſtammen muͤßten. Unter ihnen will ich zunaͤchſt den großen deutſchen Geologen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/106
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/106>, abgerufen am 24.11.2024.