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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Lamarck's zoologische Philosophie.
win's Werk, welches gerade ein halbes Jahrhundert später erschien,
finden wir kein zweites, welches wir der Philosophie zoologique an
die Seite setzen könnten. Wie weit dieselbe ihrer Zeit vorauseilte,
geht wohl am besten daraus hervor, daß sie von den Meisten gar
nicht verstanden und fünfzig Jahre hindurch todtgeschwiegen wurde.
Lamarck's größter Gegner, Cuvier, erwähnt in seinem Bericht
über die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem die unbedeu-
tendsten anatomischen Untersuchungen Aufnahme fanden, dieses epo-
chemachende Werk mit keinem Worte. Auch Goethe, welcher sich
so lebhaft für die französische Naturphilosophie, für "die Gedanken der
verwandten Geister jenseits des Rheins", interessirte, gedenkt La-
marck's
nirgends, und scheint die Philosophie zoologique gar nicht
gekannt zu haben. Den hohen Ruf, welchen Lamarck sich als Na-
turforscher erwarb, verdankt derselbe nicht seinem höchst bedeutenden
allgemeinen Werke, sondern zahlreichen speciellen Arbeiten über nie-
dere Thiere, insbesondere Mollusken, sowie einer ausgezeichneten "Na-
turgeschichte der wirbellosen Thiere", welche 1815 -- 1822 in sieben
Bänden erschien. Der erste Band dieses berühmten Werkes (1815)
enthält in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausführliche Dar-
stellung seiner Abstammungslehre. Von der ungemeinen Bedeutung
der Philosophie zoologique kann ich Jhnen vielleicht keine bessere
Vorstellung geben, als wenn ich Jhnen daraus einige der wichtigsten
Sätze wörtlich anführe:

"Die systematischen Eintheilungen, die Klassen, Ordnungen, Fa-
milien, Gattungen und Arten, sowie deren Benennung sind willkür-
liche Kunsterzeugnisse des Menschen. Die Arten oder Species der Or-
ganismen sind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und
zeigen nur eine relative, zeitweilige Beständigkeit; aus Varietäten ge-
hen Arten hervor. Die Verschiedenheit in den Lebensbedingungen
wirkt verändernd auf die Organisation, die allgemeine Form und die
Theile der Thiere ein, ebenso der Gebrauch oder Nichtgebrauch der
Organe. Jm ersten Anfang sind nur die allereinfachsten und niedrig-
sten Thiere und Pflanzen entstanden und erst zuletzt diejenigen von

Lamarck’s zoologiſche Philoſophie.
win’s Werk, welches gerade ein halbes Jahrhundert ſpaͤter erſchien,
finden wir kein zweites, welches wir der Philosophie zoologique an
die Seite ſetzen koͤnnten. Wie weit dieſelbe ihrer Zeit vorauseilte,
geht wohl am beſten daraus hervor, daß ſie von den Meiſten gar
nicht verſtanden und fuͤnfzig Jahre hindurch todtgeſchwiegen wurde.
Lamarck’s groͤßter Gegner, Cuvier, erwaͤhnt in ſeinem Bericht
uͤber die Fortſchritte der Naturwiſſenſchaften, in welchem die unbedeu-
tendſten anatomiſchen Unterſuchungen Aufnahme fanden, dieſes epo-
chemachende Werk mit keinem Worte. Auch Goethe, welcher ſich
ſo lebhaft fuͤr die franzoͤſiſche Naturphiloſophie, fuͤr „die Gedanken der
verwandten Geiſter jenſeits des Rheins“, intereſſirte, gedenkt La-
marck’s
nirgends, und ſcheint die Philosophie zoologique gar nicht
gekannt zu haben. Den hohen Ruf, welchen Lamarck ſich als Na-
turforſcher erwarb, verdankt derſelbe nicht ſeinem hoͤchſt bedeutenden
allgemeinen Werke, ſondern zahlreichen ſpeciellen Arbeiten uͤber nie-
dere Thiere, insbeſondere Mollusken, ſowie einer ausgezeichneten „Na-
turgeſchichte der wirbelloſen Thiere“, welche 1815 — 1822 in ſieben
Baͤnden erſchien. Der erſte Band dieſes beruͤhmten Werkes (1815)
enthaͤlt in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausfuͤhrliche Dar-
ſtellung ſeiner Abſtammungslehre. Von der ungemeinen Bedeutung
der Philosophie zoologique kann ich Jhnen vielleicht keine beſſere
Vorſtellung geben, als wenn ich Jhnen daraus einige der wichtigſten
Saͤtze woͤrtlich anfuͤhre:

„Die ſyſtematiſchen Eintheilungen, die Klaſſen, Ordnungen, Fa-
milien, Gattungen und Arten, ſowie deren Benennung ſind willkuͤr-
liche Kunſterzeugniſſe des Menſchen. Die Arten oder Species der Or-
ganismen ſind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und
zeigen nur eine relative, zeitweilige Beſtaͤndigkeit; aus Varietaͤten ge-
hen Arten hervor. Die Verſchiedenheit in den Lebensbedingungen
wirkt veraͤndernd auf die Organiſation, die allgemeine Form und die
Theile der Thiere ein, ebenſo der Gebrauch oder Nichtgebrauch der
Organe. Jm erſten Anfang ſind nur die allereinfachſten und niedrig-
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[90/0111] Lamarck’s zoologiſche Philoſophie. win’s Werk, welches gerade ein halbes Jahrhundert ſpaͤter erſchien, finden wir kein zweites, welches wir der Philosophie zoologique an die Seite ſetzen koͤnnten. Wie weit dieſelbe ihrer Zeit vorauseilte, geht wohl am beſten daraus hervor, daß ſie von den Meiſten gar nicht verſtanden und fuͤnfzig Jahre hindurch todtgeſchwiegen wurde. Lamarck’s groͤßter Gegner, Cuvier, erwaͤhnt in ſeinem Bericht uͤber die Fortſchritte der Naturwiſſenſchaften, in welchem die unbedeu- tendſten anatomiſchen Unterſuchungen Aufnahme fanden, dieſes epo- chemachende Werk mit keinem Worte. Auch Goethe, welcher ſich ſo lebhaft fuͤr die franzoͤſiſche Naturphiloſophie, fuͤr „die Gedanken der verwandten Geiſter jenſeits des Rheins“, intereſſirte, gedenkt La- marck’s nirgends, und ſcheint die Philosophie zoologique gar nicht gekannt zu haben. Den hohen Ruf, welchen Lamarck ſich als Na- turforſcher erwarb, verdankt derſelbe nicht ſeinem hoͤchſt bedeutenden allgemeinen Werke, ſondern zahlreichen ſpeciellen Arbeiten uͤber nie- dere Thiere, insbeſondere Mollusken, ſowie einer ausgezeichneten „Na- turgeſchichte der wirbelloſen Thiere“, welche 1815 — 1822 in ſieben Baͤnden erſchien. Der erſte Band dieſes beruͤhmten Werkes (1815) enthaͤlt in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausfuͤhrliche Dar- ſtellung ſeiner Abſtammungslehre. Von der ungemeinen Bedeutung der Philosophie zoologique kann ich Jhnen vielleicht keine beſſere Vorſtellung geben, als wenn ich Jhnen daraus einige der wichtigſten Saͤtze woͤrtlich anfuͤhre: „Die ſyſtematiſchen Eintheilungen, die Klaſſen, Ordnungen, Fa- milien, Gattungen und Arten, ſowie deren Benennung ſind willkuͤr- liche Kunſterzeugniſſe des Menſchen. Die Arten oder Species der Or- ganismen ſind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und zeigen nur eine relative, zeitweilige Beſtaͤndigkeit; aus Varietaͤten ge- hen Arten hervor. Die Verſchiedenheit in den Lebensbedingungen wirkt veraͤndernd auf die Organiſation, die allgemeine Form und die Theile der Thiere ein, ebenſo der Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe. Jm erſten Anfang ſind nur die allereinfachſten und niedrig- ſten Thiere und Pflanzen entſtanden und erſt zuletzt diejenigen von

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/111>, abgerufen am 20.05.2024.