theorie, welcher die gemeinsame Abstammung aller Thier- und Pflan- zenarten von einfachsten gemeinsamen Stammformen behauptet, seinem verdientesten Begründer zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus nennen, wenn man einmal an den Namen eines einzelnen hervorra- genden Naturforschers das Verdienst knüpfen will, eine solche Grund- lehre zuerst durchgeführt zu haben. Dagegen würden wir mit Recht als Darwinismus die Selectionstheorie oder Züchtungslehre zu bezeichnen haben, denjenigen Theil der Entwickelungstheorie, welcher uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verschiedenen Orga- nismenarten aus jenen einfachsten Stammformen sich entwickelt haben (Gen. Morph. II, 166).
Diese Züchtungslehre oder Selectionstheorie, der Darwinismus im eigentlichen Sinne, zu dessen Betrachtung wir uns jetzt wenden, beruht wesentlich (wie es bereits in dem letzten Vortrage angedeutet wurde) auf der Vergleichung derjenigen Thätigkeit, welche der Mensch bei der Züchtung der Hausthiere und Gartenpflanzen ausübt, mit denjenigen Vorgängen, welche in der freien Natur, außerhalb des Kulturzustandes, zur Entstehung neuer Arten und neuer Gattungen führen. Wir müssen uns, um diese letzten Vorgänge zu verstehen, also zunächst zur künstlichen Züchtung des Menschen wenden, wie es auch von Darwin selbst geschehen ist. Wir müssen untersuchen, welche Erfolge der Mensch durch seine künstliche Züchtung erzielt, und welche Mittel er anwendet, um diese Erfolge hervorzubringen; und dann müssen wir uns fragen: "Giebt es in der Natur ähnliche Kräfte, ähnliche wirkende Ursachen, wie sie der Mensch hier anwendet?"
Was nun zunächst die künstliche Züchtung betrifft, so gehen wir von der Thatsache aus, die zuletzt erörtert wurde, daß deren Pro- ducte in nicht seltenen Fällen viel mehr von einander verschieden sind, als die Erzeugnisse der natürlichen Züchtung. Jn der That weichen die Rassen oder Spielarten oft in höherem Grade von einander ab, als es viele sogenannte "gute Arten" oder Species, ja bisweilen so- gar mehr, als es sogenannte "gute Gattungen" im Naturzustande thun. Vergleichen Sie z. B. die verschiedenen Aepfelsorten, welche
Darwinismus und Lamarckismus.
theorie, welcher die gemeinſame Abſtammung aller Thier- und Pflan- zenarten von einfachſten gemeinſamen Stammformen behauptet, ſeinem verdienteſten Begruͤnder zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus nennen, wenn man einmal an den Namen eines einzelnen hervorra- genden Naturforſchers das Verdienſt knuͤpfen will, eine ſolche Grund- lehre zuerſt durchgefuͤhrt zu haben. Dagegen wuͤrden wir mit Recht als Darwinismus die Selectionstheorie oder Zuͤchtungslehre zu bezeichnen haben, denjenigen Theil der Entwickelungstheorie, welcher uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verſchiedenen Orga- nismenarten aus jenen einfachſten Stammformen ſich entwickelt haben (Gen. Morph. II, 166).
Dieſe Zuͤchtungslehre oder Selectionstheorie, der Darwinismus im eigentlichen Sinne, zu deſſen Betrachtung wir uns jetzt wenden, beruht weſentlich (wie es bereits in dem letzten Vortrage angedeutet wurde) auf der Vergleichung derjenigen Thaͤtigkeit, welche der Menſch bei der Zuͤchtung der Hausthiere und Gartenpflanzen ausuͤbt, mit denjenigen Vorgaͤngen, welche in der freien Natur, außerhalb des Kulturzuſtandes, zur Entſtehung neuer Arten und neuer Gattungen fuͤhren. Wir muͤſſen uns, um dieſe letzten Vorgaͤnge zu verſtehen, alſo zunaͤchſt zur kuͤnſtlichen Zuͤchtung des Menſchen wenden, wie es auch von Darwin ſelbſt geſchehen iſt. Wir muͤſſen unterſuchen, welche Erfolge der Menſch durch ſeine kuͤnſtliche Zuͤchtung erzielt, und welche Mittel er anwendet, um dieſe Erfolge hervorzubringen; und dann muͤſſen wir uns fragen: „Giebt es in der Natur aͤhnliche Kraͤfte, aͤhnliche wirkende Urſachen, wie ſie der Menſch hier anwendet?“
Was nun zunaͤchſt die kuͤnſtliche Zuͤchtung betrifft, ſo gehen wir von der Thatſache aus, die zuletzt eroͤrtert wurde, daß deren Pro- ducte in nicht ſeltenen Faͤllen viel mehr von einander verſchieden ſind, als die Erzeugniſſe der natuͤrlichen Zuͤchtung. Jn der That weichen die Raſſen oder Spielarten oft in hoͤherem Grade von einander ab, als es viele ſogenannte „gute Arten“ oder Species, ja bisweilen ſo- gar mehr, als es ſogenannte „gute Gattungen“ im Naturzuſtande thun. Vergleichen Sie z. B. die verſchiedenen Aepfelſorten, welche
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Darwinismus und Lamarckismus.
theorie, welcher die gemeinſame Abſtammung aller Thier- und Pflan-
zenarten von einfachſten gemeinſamen Stammformen behauptet, ſeinem
verdienteſten Begruͤnder zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus
nennen, wenn man einmal an den Namen eines einzelnen hervorra-
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lehre zuerſt durchgefuͤhrt zu haben. Dagegen wuͤrden wir mit Recht
als Darwinismus die Selectionstheorie oder Zuͤchtungslehre zu
bezeichnen haben, denjenigen Theil der Entwickelungstheorie, welcher
uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verſchiedenen Orga-
nismenarten aus jenen einfachſten Stammformen ſich entwickelt haben
(Gen. Morph. II, 166).
Dieſe Zuͤchtungslehre oder Selectionstheorie, der Darwinismus
im eigentlichen Sinne, zu deſſen Betrachtung wir uns jetzt wenden,
beruht weſentlich (wie es bereits in dem letzten Vortrage angedeutet
wurde) auf der Vergleichung derjenigen Thaͤtigkeit, welche der Menſch
bei der Zuͤchtung der Hausthiere und Gartenpflanzen ausuͤbt, mit
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Kulturzuſtandes, zur Entſtehung neuer Arten und neuer Gattungen
fuͤhren. Wir muͤſſen uns, um dieſe letzten Vorgaͤnge zu verſtehen,
alſo zunaͤchſt zur kuͤnſtlichen Zuͤchtung des Menſchen wenden, wie es
auch von Darwin ſelbſt geſchehen iſt. Wir muͤſſen unterſuchen,
welche Erfolge der Menſch durch ſeine kuͤnſtliche Zuͤchtung erzielt, und
welche Mittel er anwendet, um dieſe Erfolge hervorzubringen; und
dann muͤſſen wir uns fragen: „Giebt es in der Natur aͤhnliche Kraͤfte,
aͤhnliche wirkende Urſachen, wie ſie der Menſch hier anwendet?“
Was nun zunaͤchſt die kuͤnſtliche Zuͤchtung betrifft, ſo gehen
wir von der Thatſache aus, die zuletzt eroͤrtert wurde, daß deren Pro-
ducte in nicht ſeltenen Faͤllen viel mehr von einander verſchieden ſind,
als die Erzeugniſſe der natuͤrlichen Zuͤchtung. Jn der That weichen
die Raſſen oder Spielarten oft in hoͤherem Grade von einander ab,
als es viele ſogenannte „gute Arten“ oder Species, ja bisweilen ſo-
gar mehr, als es ſogenannte „gute Gattungen“ im Naturzuſtande
thun. Vergleichen Sie z. B. die verſchiedenen Aepfelſorten, welche
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/139>, abgerufen am 21.11.2024.
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