die Gartenkunst von einer und derselben ursprünglichen Apfelform ge- zogen hat, oder vergleichen Sie die verschiedenen Pferderassen, welche die Thierzüchter aus einer und derselben ursprünglichen Form des Pferdes abgeleitet haben, so finden Sie leicht, daß die Unterschiede der am meisten verschiedenen Formen ganz außerordentlich bedeutend sind, viel bedeutender, als die Unterschiede, welche von den Zoologen und Botanikern bei Vergleichung der wilden Arten angewandt wer- den, um darauf hin verschiedene sogenannte "gute Arten" zu unter- scheiden.
Wodurch bringt nun der Mensch diese außerordentliche Verschie- denheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwiesenermaßen von einer und derselben Stammform abstammen? Lassen Sie uns zur Beantwortung dieser Frage einen Gärtner verfolgen, der bemüht ist, eine neue Pflanzenform zu züchten, die sich durch eine schöne Blu- menfarbe auszeichnet. Derselbe wird zunächst unter einer großen An- zahl von Pflanzen, welche Sämlinge einer nnd derselben Pflanze sind, eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird diejenigen Pflanzen heraussuchen, welche die ihm erwünschte Blüthenfarbe am meisten ausgeprägt zeigen. Gerade die Blüthenfarbe ist ein sehr veränder- licher Gegenstand. Zum Beispiel zeigen Pflanzen, welche in der Re- gel eine weiße Blüthe besitzen, sehr häufig Abweichungen in's Blaue oder Rothe hinein. Gesetzt nun, der Gärtner wünscht eine solche, ge- wöhnlich weiß blühende Pflanze in rother Farbe zu erhalten, so würde er sehr sorgfältig unter den mancherlei verschiedenen Jndividuen, die Abkömmlinge einer und derselben Samenpflanze sind, diejenigen her- aussuchen, die am deutlichsten einen rothen Anflug zeigen, und diese ausschließlich aussäen, um neue Jndividuen derselben Art zu erzielen. Er würde die übrigen Samenpflanzen, die weiße oder weniger deut- lich rothe Farbe zeigen, ausfallen lassen und nicht weiter cultiviren. Ausschließlich die einzelnen Pflanzen, deren Blüthen das stärkste Roth zeigen, würde er fortpflanzen und die Samen, welche diese auserlese- nen Pflanzen bringen, würde er wieder aussäen. Von den Samen- pflanzen dieser zweiten Generation würde er wiederum diejenigen sorg-
Vorgang der kuͤnſtlichen Zuͤchtung.
die Gartenkunſt von einer und derſelben urſpruͤnglichen Apfelform ge- zogen hat, oder vergleichen Sie die verſchiedenen Pferderaſſen, welche die Thierzuͤchter aus einer und derſelben urſpruͤnglichen Form des Pferdes abgeleitet haben, ſo finden Sie leicht, daß die Unterſchiede der am meiſten verſchiedenen Formen ganz außerordentlich bedeutend ſind, viel bedeutender, als die Unterſchiede, welche von den Zoologen und Botanikern bei Vergleichung der wilden Arten angewandt wer- den, um darauf hin verſchiedene ſogenannte „gute Arten“ zu unter- ſcheiden.
Wodurch bringt nun der Menſch dieſe außerordentliche Verſchie- denheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwieſenermaßen von einer und derſelben Stammform abſtammen? Laſſen Sie uns zur Beantwortung dieſer Frage einen Gaͤrtner verfolgen, der bemuͤht iſt, eine neue Pflanzenform zu zuͤchten, die ſich durch eine ſchoͤne Blu- menfarbe auszeichnet. Derſelbe wird zunaͤchſt unter einer großen An- zahl von Pflanzen, welche Saͤmlinge einer nnd derſelben Pflanze ſind, eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird diejenigen Pflanzen herausſuchen, welche die ihm erwuͤnſchte Bluͤthenfarbe am meiſten ausgepraͤgt zeigen. Gerade die Bluͤthenfarbe iſt ein ſehr veraͤnder- licher Gegenſtand. Zum Beiſpiel zeigen Pflanzen, welche in der Re- gel eine weiße Bluͤthe beſitzen, ſehr haͤufig Abweichungen in’s Blaue oder Rothe hinein. Geſetzt nun, der Gaͤrtner wuͤnſcht eine ſolche, ge- woͤhnlich weiß bluͤhende Pflanze in rother Farbe zu erhalten, ſo wuͤrde er ſehr ſorgfaͤltig unter den mancherlei verſchiedenen Jndividuen, die Abkoͤmmlinge einer und derſelben Samenpflanze ſind, diejenigen her- ausſuchen, die am deutlichſten einen rothen Anflug zeigen, und dieſe ausſchließlich ausſaͤen, um neue Jndividuen derſelben Art zu erzielen. Er wuͤrde die uͤbrigen Samenpflanzen, die weiße oder weniger deut- lich rothe Farbe zeigen, ausfallen laſſen und nicht weiter cultiviren. Ausſchließlich die einzelnen Pflanzen, deren Bluͤthen das ſtaͤrkſte Roth zeigen, wuͤrde er fortpflanzen und die Samen, welche dieſe auserleſe- nen Pflanzen bringen, wuͤrde er wieder ausſaͤen. Von den Samen- pflanzen dieſer zweiten Generation wuͤrde er wiederum diejenigen ſorg-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0140"n="119"/><fwplace="top"type="header">Vorgang der kuͤnſtlichen Zuͤchtung.</fw><lb/>
die Gartenkunſt von einer und derſelben urſpruͤnglichen Apfelform ge-<lb/>
zogen hat, oder vergleichen Sie die verſchiedenen Pferderaſſen, welche<lb/>
die Thierzuͤchter aus einer und derſelben urſpruͤnglichen Form des<lb/>
Pferdes abgeleitet haben, ſo finden Sie leicht, daß die Unterſchiede<lb/>
der am meiſten verſchiedenen Formen ganz außerordentlich bedeutend<lb/>ſind, viel bedeutender, als die Unterſchiede, welche von den Zoologen<lb/>
und Botanikern bei Vergleichung der wilden Arten angewandt wer-<lb/>
den, um darauf hin verſchiedene ſogenannte „gute Arten“ zu unter-<lb/>ſcheiden.</p><lb/><p>Wodurch bringt nun der Menſch dieſe außerordentliche Verſchie-<lb/>
denheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwieſenermaßen<lb/>
von einer und derſelben Stammform abſtammen? Laſſen Sie uns<lb/>
zur Beantwortung dieſer Frage einen Gaͤrtner verfolgen, der bemuͤht<lb/>
iſt, eine neue Pflanzenform zu zuͤchten, die ſich durch eine ſchoͤne Blu-<lb/>
menfarbe auszeichnet. Derſelbe wird zunaͤchſt unter einer großen An-<lb/>
zahl von Pflanzen, welche Saͤmlinge einer nnd derſelben Pflanze ſind,<lb/>
eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird diejenigen Pflanzen<lb/>
herausſuchen, welche die ihm erwuͤnſchte Bluͤthenfarbe am meiſten<lb/>
ausgepraͤgt zeigen. Gerade die Bluͤthenfarbe iſt ein ſehr veraͤnder-<lb/>
licher Gegenſtand. Zum Beiſpiel zeigen Pflanzen, welche in der Re-<lb/>
gel eine weiße Bluͤthe beſitzen, ſehr haͤufig Abweichungen in’s Blaue<lb/>
oder Rothe hinein. Geſetzt nun, der Gaͤrtner wuͤnſcht eine ſolche, ge-<lb/>
woͤhnlich weiß bluͤhende Pflanze in rother Farbe zu erhalten, ſo wuͤrde<lb/>
er ſehr ſorgfaͤltig unter den mancherlei verſchiedenen Jndividuen, die<lb/>
Abkoͤmmlinge einer und derſelben Samenpflanze ſind, diejenigen her-<lb/>
ausſuchen, die am deutlichſten einen rothen Anflug zeigen, und dieſe<lb/>
ausſchließlich ausſaͤen, um neue Jndividuen derſelben Art zu erzielen.<lb/>
Er wuͤrde die uͤbrigen Samenpflanzen, die weiße oder weniger deut-<lb/>
lich rothe Farbe zeigen, ausfallen laſſen und nicht weiter cultiviren.<lb/>
Ausſchließlich die einzelnen Pflanzen, deren Bluͤthen das ſtaͤrkſte Roth<lb/>
zeigen, wuͤrde er fortpflanzen und die Samen, welche dieſe auserleſe-<lb/>
nen Pflanzen bringen, wuͤrde er wieder ausſaͤen. Von den Samen-<lb/>
pflanzen dieſer zweiten Generation wuͤrde er wiederum diejenigen ſorg-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[119/0140]
Vorgang der kuͤnſtlichen Zuͤchtung.
die Gartenkunſt von einer und derſelben urſpruͤnglichen Apfelform ge-
zogen hat, oder vergleichen Sie die verſchiedenen Pferderaſſen, welche
die Thierzuͤchter aus einer und derſelben urſpruͤnglichen Form des
Pferdes abgeleitet haben, ſo finden Sie leicht, daß die Unterſchiede
der am meiſten verſchiedenen Formen ganz außerordentlich bedeutend
ſind, viel bedeutender, als die Unterſchiede, welche von den Zoologen
und Botanikern bei Vergleichung der wilden Arten angewandt wer-
den, um darauf hin verſchiedene ſogenannte „gute Arten“ zu unter-
ſcheiden.
Wodurch bringt nun der Menſch dieſe außerordentliche Verſchie-
denheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwieſenermaßen
von einer und derſelben Stammform abſtammen? Laſſen Sie uns
zur Beantwortung dieſer Frage einen Gaͤrtner verfolgen, der bemuͤht
iſt, eine neue Pflanzenform zu zuͤchten, die ſich durch eine ſchoͤne Blu-
menfarbe auszeichnet. Derſelbe wird zunaͤchſt unter einer großen An-
zahl von Pflanzen, welche Saͤmlinge einer nnd derſelben Pflanze ſind,
eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird diejenigen Pflanzen
herausſuchen, welche die ihm erwuͤnſchte Bluͤthenfarbe am meiſten
ausgepraͤgt zeigen. Gerade die Bluͤthenfarbe iſt ein ſehr veraͤnder-
licher Gegenſtand. Zum Beiſpiel zeigen Pflanzen, welche in der Re-
gel eine weiße Bluͤthe beſitzen, ſehr haͤufig Abweichungen in’s Blaue
oder Rothe hinein. Geſetzt nun, der Gaͤrtner wuͤnſcht eine ſolche, ge-
woͤhnlich weiß bluͤhende Pflanze in rother Farbe zu erhalten, ſo wuͤrde
er ſehr ſorgfaͤltig unter den mancherlei verſchiedenen Jndividuen, die
Abkoͤmmlinge einer und derſelben Samenpflanze ſind, diejenigen her-
ausſuchen, die am deutlichſten einen rothen Anflug zeigen, und dieſe
ausſchließlich ausſaͤen, um neue Jndividuen derſelben Art zu erzielen.
Er wuͤrde die uͤbrigen Samenpflanzen, die weiße oder weniger deut-
lich rothe Farbe zeigen, ausfallen laſſen und nicht weiter cultiviren.
Ausſchließlich die einzelnen Pflanzen, deren Bluͤthen das ſtaͤrkſte Roth
zeigen, wuͤrde er fortpflanzen und die Samen, welche dieſe auserleſe-
nen Pflanzen bringen, wuͤrde er wieder ausſaͤen. Von den Samen-
pflanzen dieſer zweiten Generation wuͤrde er wiederum diejenigen ſorg-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/140>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.