Vergleichung der natürlichen und der künstlichen Züchtung.
Formveränderungen, wie sie im Culturzustande durch die Thätigkeit des züchtenden Menschen hervorgebracht werden.
Es wird Jhnen auf den ersten Blick dieser Gedanke vielleicht sehr unbedeutend und kleinlich erscheinen, und Sie werden nicht geneigt sein der Thätigkeit jenes Verhältnisses ein solches Gewicht einzuräumen, wie dasselbe in der That besitzt. Jch muß mir daher vorbehalten, in einem spätern Vortrage an weiteren Beispielen das ungeheuer weit reichende Umgestaltungsvermögen der natürlichen Züchtung Jhnen vor Augen zu führen. Vorläufig beschränke ich mich darauf, Jhnen nochmals die beiden Vorgänge der künstlichen und natürlichen Züch- tung neben einander zu stellen und Uebereinstimmung und Unterschied in beiden Züchtungsprozessen scharf gegen einander zu halten.
Natürliche sowohl, als künstliche Züchtung sind ganz einfache, natürliche, mechanische Lebensverhältnisse, welche auf der Wechsel- wirkung zweier physiologischer Functionen beruhen, nämlich der An- passung und der Vererbung, Functionen, die als solche wieder auf physikalische und chemische Eigenschaften der organischen Materie zurückzuführen sind. Ein Unterschied beider Züchtungsformen besteht darin, daß bei der künstlichen Züchtung der Wille des Menschen planmäßig die Auswahl oder Auslese betreibt, während bei der na- türlichen Züchtung der Kampf um das Dasein (jenes allgemeine Wechselverhältniß der Organismen) planlos wirkt, aber übrigens ganz dasselbe Resultat erzeugt, nämlich eine Auswahl oder Selection besonders gearteter Jndividuen zur Nachzucht. Die Veränderungen, welche durch die Züchtung hervorgebracht werden, schlagen bei der künstlichen Züchtung zum Vortheil des züchtenden Menschen aus, bei der natürlichen Züchtung dagegen zum Vortheil des gezüchteten Organismus selbst, wie es in der Natur der Sache liegt.
Das sind die wesentlichsten Unterschiede und Uebereinstimmungen zwischen beiderlei Züchtungsarten. Es ist dann aber ferner noch zu berücksichtigen, daß ein weiterer Unterschied in der Zeitdauer besteht, welche für den Züchtungsprozeß der beiderlei Arten erforderlich ist. Der Mensch vermag bei der künstlichen Zuchtwahl in viel kürzerer
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Vergleichung der natuͤrlichen und der kuͤnſtlichen Zuͤchtung.
Formveraͤnderungen, wie ſie im Culturzuſtande durch die Thaͤtigkeit des zuͤchtenden Menſchen hervorgebracht werden.
Es wird Jhnen auf den erſten Blick dieſer Gedanke vielleicht ſehr unbedeutend und kleinlich erſcheinen, und Sie werden nicht geneigt ſein der Thaͤtigkeit jenes Verhaͤltniſſes ein ſolches Gewicht einzuraͤumen, wie daſſelbe in der That beſitzt. Jch muß mir daher vorbehalten, in einem ſpaͤtern Vortrage an weiteren Beiſpielen das ungeheuer weit reichende Umgeſtaltungsvermoͤgen der natuͤrlichen Zuͤchtung Jhnen vor Augen zu fuͤhren. Vorlaͤufig beſchraͤnke ich mich darauf, Jhnen nochmals die beiden Vorgaͤnge der kuͤnſtlichen und natuͤrlichen Zuͤch- tung neben einander zu ſtellen und Uebereinſtimmung und Unterſchied in beiden Zuͤchtungsprozeſſen ſcharf gegen einander zu halten.
Natuͤrliche ſowohl, als kuͤnſtliche Zuͤchtung ſind ganz einfache, natuͤrliche, mechaniſche Lebensverhaͤltniſſe, welche auf der Wechſel- wirkung zweier phyſiologiſcher Functionen beruhen, naͤmlich der An- paſſung und der Vererbung, Functionen, die als ſolche wieder auf phyſikaliſche und chemiſche Eigenſchaften der organiſchen Materie zuruͤckzufuͤhren ſind. Ein Unterſchied beider Zuͤchtungsformen beſteht darin, daß bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung der Wille des Menſchen planmaͤßig die Auswahl oder Ausleſe betreibt, waͤhrend bei der na- tuͤrlichen Zuͤchtung der Kampf um das Daſein (jenes allgemeine Wechſelverhaͤltniß der Organismen) planlos wirkt, aber uͤbrigens ganz daſſelbe Reſultat erzeugt, naͤmlich eine Auswahl oder Selection beſonders gearteter Jndividuen zur Nachzucht. Die Veraͤnderungen, welche durch die Zuͤchtung hervorgebracht werden, ſchlagen bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung zum Vortheil des zuͤchtenden Menſchen aus, bei der natuͤrlichen Zuͤchtung dagegen zum Vortheil des gezuͤchteten Organismus ſelbſt, wie es in der Natur der Sache liegt.
Das ſind die weſentlichſten Unterſchiede und Uebereinſtimmungen zwiſchen beiderlei Zuͤchtungsarten. Es iſt dann aber ferner noch zu beruͤckſichtigen, daß ein weiterer Unterſchied in der Zeitdauer beſteht, welche fuͤr den Zuͤchtungsprozeß der beiderlei Arten erforderlich iſt. Der Menſch vermag bei der kuͤnſtlichen Zuchtwahl in viel kuͤrzerer
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Vergleichung der natuͤrlichen und der kuͤnſtlichen Zuͤchtung.
Formveraͤnderungen, wie ſie im Culturzuſtande durch die Thaͤtigkeit
des zuͤchtenden Menſchen hervorgebracht werden.
Es wird Jhnen auf den erſten Blick dieſer Gedanke vielleicht
ſehr unbedeutend und kleinlich erſcheinen, und Sie werden nicht geneigt
ſein der Thaͤtigkeit jenes Verhaͤltniſſes ein ſolches Gewicht einzuraͤumen,
wie daſſelbe in der That beſitzt. Jch muß mir daher vorbehalten, in
einem ſpaͤtern Vortrage an weiteren Beiſpielen das ungeheuer weit
reichende Umgeſtaltungsvermoͤgen der natuͤrlichen Zuͤchtung Jhnen
vor Augen zu fuͤhren. Vorlaͤufig beſchraͤnke ich mich darauf, Jhnen
nochmals die beiden Vorgaͤnge der kuͤnſtlichen und natuͤrlichen Zuͤch-
tung neben einander zu ſtellen und Uebereinſtimmung und Unterſchied
in beiden Zuͤchtungsprozeſſen ſcharf gegen einander zu halten.
Natuͤrliche ſowohl, als kuͤnſtliche Zuͤchtung ſind ganz einfache,
natuͤrliche, mechaniſche Lebensverhaͤltniſſe, welche auf der Wechſel-
wirkung zweier phyſiologiſcher Functionen beruhen, naͤmlich der An-
paſſung und der Vererbung, Functionen, die als ſolche wieder
auf phyſikaliſche und chemiſche Eigenſchaften der organiſchen Materie
zuruͤckzufuͤhren ſind. Ein Unterſchied beider Zuͤchtungsformen beſteht
darin, daß bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung der Wille des Menſchen
planmaͤßig die Auswahl oder Ausleſe betreibt, waͤhrend bei der na-
tuͤrlichen Zuͤchtung der Kampf um das Daſein (jenes allgemeine
Wechſelverhaͤltniß der Organismen) planlos wirkt, aber uͤbrigens
ganz daſſelbe Reſultat erzeugt, naͤmlich eine Auswahl oder Selection
beſonders gearteter Jndividuen zur Nachzucht. Die Veraͤnderungen,
welche durch die Zuͤchtung hervorgebracht werden, ſchlagen bei der
kuͤnſtlichen Zuͤchtung zum Vortheil des zuͤchtenden Menſchen aus,
bei der natuͤrlichen Zuͤchtung dagegen zum Vortheil des gezuͤchteten
Organismus ſelbſt, wie es in der Natur der Sache liegt.
Das ſind die weſentlichſten Unterſchiede und Uebereinſtimmungen
zwiſchen beiderlei Zuͤchtungsarten. Es iſt dann aber ferner noch zu
beruͤckſichtigen, daß ein weiterer Unterſchied in der Zeitdauer beſteht,
welche fuͤr den Zuͤchtungsprozeß der beiderlei Arten erforderlich iſt.
Der Menſch vermag bei der kuͤnſtlichen Zuchtwahl in viel kuͤrzerer
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/152>, abgerufen am 22.11.2024.
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